Mensch... Frau Merkel!

Da hatten wir uns schon langsam gefragt, wo Sie eigentlich abgeblieben sind. Soll Köhler wiedergewählt werden? Angela Merkel schweigt. Steinbrück verprügelt seine Minister-Kollegen? Merkel mauert. Machtwort bei Mindestlöhnen?

Kein Ton von Merkel. Und dann, rumms, ganz lässig bei einer Opern-Eröffnung in Oslo, erobern Sie auf einen Schlag wieder alle Schlagzeilen. Und das mit zwei Argumenten, an denen die Journalisten-Kollegen von Boulevard bis seriös offenkundig einfach nicht vorbeikommen. Nichts regt die Fantasie von (vorrangig männlichen) Überschriften-Machern annähernd zu solchen Höhenflügen an wie jene weibliche Hautfalte, die knapp südlich des Adamsapfels nach unten führt. "Ein Dekolleté geht um die Welt", titelte das Hamburger Abendblatt für den eher bürgerlichen Leser, "Die Kanzlerin ließ tief blicken", doppeldeutelte die intellektuelle "Süddeutsche", und für das proletarische Publikum jubelte der Berliner Kurier: "Deutschland kann stolz sein auf diesen Vorbau". Wie schön, vor allem, wo es doch sonst derzeit nicht allzu viel gibt, worauf Deutschland stolz sein könnte. Neben der Zunft der Schlagzeilen-Erfinder hatten nach Ihrem furiosen Auftritt auch die Kaffeesatzleser Hochkonjunktur. So wie jener Duisburger Politikwissenschaftler, der frech befand, Sie hätten als Kanzlerin bislang eher durch äußerliche "Verzichts-Ästhetik" geglänzt und würden nun ihre Stamm-Wähler irritieren. Oder der gemeine Reporter, der bei Regierungssprecher Steg anfragte, ob Ihr in der türkischen Presse heftig diskutierter Auftritt Bestandteil einer Strategie zur Verhinderung des EU-Beitritts der Türkei gewesen sei. Nicht zu vergessen der unverschämte Mode-Experte, der vermutete, Ihr tiefer Ausschnitt sei einfach das einzige Mittel, von Ihrer Frisur abzulenken. Da tat es sicher gut, in der FAZ zu lesen, Angela Merkel sei inzwischen "eine Ikone des dezenten Schicks". Na ja, alles Geschmackssache. Aber dass Sie immer für Überraschungen gut sind, statt sich stromlinienförmig ins Klischee pressen zu lassen: Das kann ruhig so bleiben. Wobei es sich nach Oslo ohnehin verbietet, im Zusammenhang mit Ihnen von Stromlinienform zu reden. Dieter Lintz

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