Menschlichkeit in friedloser Welt

Luxemburg · Das Projekt war gewaltig und riskant. Beethovens neun Sinfonien in vier Konzerten fordern Interpreten wie Hörer bis an die Grenze der Realisierungs- und Aufnahmefähigkeit. Trotz Defiziten erwies sich das Konzept von Dirigent Iván Fischer als überzeugend.

 Voller Einsatz: Dirigent Iván Fischer in der Philharmonie. Foto: Sébastien Grébille

Voller Einsatz: Dirigent Iván Fischer in der Philharmonie. Foto: Sébastien Grébille

Foto: (g_kultur

Luxemburg. Sage mal jemand etwas gegen Beethovens Aktualität. Da präsentiert die Philharmonie in vier direkt aufeinanderfolgenden Konzerten sämtliche Sinfonien des Großklassikers, und das Publikum quittiert die Veranstaltungsfülle nicht mit Langeweile oder Überforderung, sondern mit lebhaftem Interesse und sogar überschäumender Begeisterung. Viermal hintereinander eine ausverkaufte Philharmonie - 5600 Besucher insgesamt: Beethoven ist und bleibt ein Magnet.
Iván Fischer tut ein Übriges. Er bezieht Distanz zur historisierenden Kleinbesetzung mit ihrer Bläserdominanz, aber auch zur übergroßen, die Bläser marginalisierenden Streicherformation. Das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester tritt in großer, aber nicht übergroßer Besetzung auf. Streicher mit sparsamem Vibrato, präsente Holzbläser, die Pauke meist mit harten Schlegeln, kurze, energische Akzente und eine erstaunliche Klangtransparenz - da klingt die historische Aufführungspraxis mit.
Der ungarische Dirigent lässt sich zudem nicht auf scheinbar unveränderliche Prinzipien ein. Weder Beethovens Metronom-Angaben noch seine Wiederholungsvorschriften sind für ihn ein Dogma.
Fischer geht einen Mittelweg zwischen Tradition und Historisierung. Und, erstaunlich: gerade der lässt vieles in Beethovens Partituren anders und neu klingen. Nicht die oft zitierten kleinen Provokationen der 1. Sinfonie stehen bei Fischer im Mittelpunkt, nicht der Septakkord zu Beginn oder der humorvolle Anlauf zum Finalthema, sondern eine ausgeprägte Klassizität; Beethoven erweist Haydn und Mozart seine Reverenz, ohne sie zu kopieren.
In der "Eroica" dominiert nicht martialische Schärfe, sondern eine klangglänzende Souveränität. In der Sechsten distanziert sich Fischer von diffuser Naturlyrik, setzt die vier ersten Holzbläser mitten in die Streichergruppe und erreicht damit eine ganz erstaunliche Klangtransparenz. Und die Achte - Dirigent und Orchester vermitteln präzise die Distanz zur sinfonischen Tradition, die Beethoven mitkomponierte und die sich in bewusst simpler Variationstechnik und gezieltem Nebeneinander von disparaten Elementen niederschlägt.
Nicht alles gelang, auch beim angesehenen Concertgebouw-Orchester zeigte sich in kleinen Misslichkeiten, wie schwierig Beethoven ist. Defizite blieben - in der überhart und ziemlich humorlos gespielten Vierten, im allzu spröden und fast beiläufigen Streichersatz beim Adagio der Neunten. Und auch heftigste Dirigiergestik konnte nicht verhindern, dass im Kopfsatz der Fünften die Spannung abfiel. Dabei zeigten sich gerade in der "Schicksalssinfonie" die Qualitäten dieser Interpretation. Im Finale, das allzu oft nur eng und lärmend gerät, postiert Fischer die drei Posaunen stehend hinter dem Orchester. Und erreicht damit eine erstaunliche Klangweite und Klanggröße.
Das ist genau der hymnische Tonfall, der sich vom langsamen Satz der Zweiten an durch Beethovens Sinfonik zieht. Es ist das unvergleichliche Miteinander von Pathos, Markanz und melodischer Einfühlung, das in der exzellent musizierten Siebten kulminiert - und im Finale der Neunten. Da beschwören die vorzüglichen Solisten (Florian Boesch, Michael Schade, Bernarda Fink, Myrtò Papatanasiu) und der perfekte Niederländische Rundfunkchor die Vision einer humanen Zukunft: "Seid umschlungen, Millionen". Ein überzeugender, ein tief bewegender Appell an Menschlichkeit in einer friedlosen Welt.

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