Mit rasendem Herzen

TRIER. Statt zu knutschen, hüpfen die jungen Verliebten im Trierer Messepark bei "Küss mich" erregt auf und ab, ihre Arme exstatisch über dem Kopf schwenkend. Mit Dudelsack, Feuer und Harfe bringt die Mittelalterband "In Extremo" 3000 Fan-Herzen zum rasen.

Ein tiefes Donnergrollen reißt sie aus ihrer Versenkung. Selbstvergessen knutschend hatte das junge Pärchen die Vorband "Krieger" an sich vorüberziehen lassen. Die erste große Liebe, vielleicht. Beide tragen ein schwarzes "In Extremo"-Shirt, beide haben lange Haare. So wie viele Fans, die in die Messeparkhalle gekommen sind, um "In Extremo" zu sehen: die sieben Spielmänner, die mittelalterliche Weisen mit harter Rockmusik verweben. "Gleich wird Dir zu warm", sagt ein blonder Struwwelkopf zu einem Mann mit Rollkragenpullover und lacht - lacht so, als freue er sich unbändig auf die Hitze, die bald ausbrechen soll. "In Extremo, In Extremo", skandiert die Menge. Das Donnergrollen geht in eine schwermütige Ballade über. "Das letzte Einhorn", bürgerlich Michael Robert Rhein, singt. Die Jugendlichen haben sich aus ihrer langen Umarmung gelöst. Das Mädchen ist in aufmerksamer Hingabe erstarrt. Ihr Blick ruht auf dem Einhorn, der Mund ist leicht geöffnet, ihre schmalen Hände hat sie vor der Brust ineinander gelegt. Plötzlich, zerreißt ein gewaltiger Knall ihre Andacht, Feuerfontänen stieben neben dem Sänger empor, ein Vorhang fällt und gibt den Blick frei. Die Brüste einer Galionsfigur voran scheint auf der Bühne ein gewaltiges Schiff zu segeln. Obenauf sitzt der Schlagzeuger. Davor stehen zwei Dudelsackspieler. Einer von ihnen trägt auf nackter Haut metallische Schulterplatten, der andere ein blau-weißes Ringel-T-Shirt.Brachiales Schlagzeug trifft auf Harfe und Schalmei

Sie spielen Mittelalter-Metal. Brachiales Schlagzeug, verzerrte E-Gitarre und Bass treffen bei "In Extremo" auf Sackpfeife, Schalmei, Drehleier oder Harfe. Heraus kommt eine Musik, hart und doch melodisch, die so eingängig ist, dass sie zum Mitsingen anregt - und das, obwohl die Sprache mancher Liedtexte bereits seit Jahrhunderten ausgestorben ist. Statt zu knutschen, hüpfen die Verliebten bei "Küss mich" erregt auf und ab, ihre Arme über dem Kopf schwenkend. Auch bei dem Liebeslied "Wind" machen sie damit weiter: "Was gibt es Schöneres als im Feuerschein mit der Liebe eins zu sein", singt das Einhorn. Zwischen den Liedern sinken sie sich in die Arme. Wie "Küss mich" oder "Wind" sind viele der Stücke, die "In Extremo" an diesem Abend spielen, auf ihrer neuen CD "Kein Blick zurück" - darunter "alte" Hits wie Spielmannsfluch, Hiemali Tempore oder Rasend Herz. "Wir waren heute in Trier spazieren", erzählt Rhein. Dabei seien sie in eine Personenkontrolle geraten. Weil sie keine Papiere dabei hatten, mussten sie mit zur Wache. Dort gab es Tee. "Die Polizisten waren so freundlich, die haben wir zum Konzert eingeladen." Während das Publikum sich Mühe gibt, unter einer großen Patchouli-Wolke recht düster zu wirken, macht Rhein keinerlei Anstalten, Klischees zu entsprechen. Er erkundigt sich nach dem Wohlergehen der Kinder und Rollstuhlfahrer auf der Empore und wirkt, wie er da steht und fragend guckt, als würde er es ernsthaft bedauern, dass Kommunikation von der Bühne aus nur in eine Richtung möglich ist. Auch der Abschiedsgruß, bevor die Band zum ersten Mal von der Bühne verschwindet, ist schlicht und freundlich: "Kommt gut nach Hause, gut über die Feiertage und gut ins neue Jahr", wünschen sie, um kurz darauf zum Finale zurückzukehren: Tiefviolettes Licht umspielt das Schiff. Während der Schlagzeuger mit brennenden Fackeln einen düster-monotonen Rhythmus schlägt, schießen Feuersäulen zur Decke, schnaufend, im Takt der Musik, wie aus den Nüstern eines gewaltigen Drachens. Die Hitze ist bis ans entlegene Ende der Halle zu spüren. Um wie viel stärker muss sie vorne auf den Gesichtern der frisch Verliebten brennen.

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