Musicals für Einfallslose

NEW YORK. Musicals sind eine teure Angelegenheit – und im Falle eines Misserfolgs oft ruinös für den Produzenten. Gut, dass man inzwischen wenigstens in einer Hinsicht auf Nummer sicher gehen kann: bei der Musik.

Das waren noch Zeiten, als die Zuschauer nach einer Musical-Uraufführung einen Ohrwurm mit an die Garderobe nahmen und ihn so lange nicht mehr loswurden, bis sie sich die Platte kauften. Oft waren es sogar drei, vier, ja fünf Hits, die sich in einer Partitur von Gershwin, Rodgers oder Porter fanden. Heutzutage verlassen die Theaterbesucher mitunter auch Musical-Vorstellungen voll mit Melodien, die ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen. Aber nicht, weil dem Komponisten etwas Neues und trotzdem Eingängiges eingefallen wäre - sondern weil die Hits schon alt, manchmal uralt sind. Sie stammen zum Beispiel von Abba, den Beach Boys, Pink Floyd oder Elvis Presley. Warum dieses Material immer nur in "Best-of"-Kompilationen als CD auf den Markt werfen? Sagten sich ein paar gewitzte Produzenten und beauftragten Librettisten, rund um die bewährten Millionenseller mit Showstopper-Garantie eine Story zu basteln, in die die Songs mehr oder weniger passend hineingezwängt werden.Und das Publikum kann jede Note mitsummen

Dass da der Plot im schlimm-sten Fall auf der Strecke bleibt und im besten Fall zumindest eine gewisse logische Stringenz vermissen lässt, nehmen die Macher gern in Kauf. Dafür können sie dem nostalgiesüchtigen Publikum einen erinnerungsträchtigen Musikreigen bieten, bei dem es jede Note von vornherein mitsingen kann. Dagegen ist ja prinzipiell nichts einzuwenden - besser eine Show voller Ohrwürmer als ein Abend mit den Puccini-Aufgüssen des weltweit gefeierten Andrew Lloyd-Webber, der, nebenbei bemerkt, pro Show - wenn überhaupt - gerade mal einen Hit schafft, während der Rest der Partitur regelmäßig auf der musikalischen Müllhalde landet. Begonnen haben die klingenden Wiederaufbereitungsanlagen Ende der siebziger Jahre mit Shows wie "Eubie!", die dem Ragtimepiani-sten und Komponisten Eubie Blake fünf Jahre vor seinem Tod 1983 ein Denkmal setzte. Auch Louis Armstrongs Leben wurde Stoff für ein Musical ("Satchmo"). Diese Werke zeichneten die Biografie der Künstler nach, und in die fügte sich deren Musik quasi wie von selbst ein. Irgendwann kamen die Produzenten, die durch gefloppte Musicals viel Geld verloren hatte, auf den Trichter: Eigentlich müsste man viel öfter zumindest musikalisch auf Nummer sicher gehen. Erster Streich: ein Rührstück rund um die Millionenseller der schwedischen Pop-Gruppe Abba. "Mamma Mia!" wurde 1999 in London uraufgeführt und auch im Rest der Welt so durchschlagend erfolgreich, dass die Musicalproduzenten begannen, die gigantischen Pop-Bestände auf verwertbares Material durchzuforsten. Und sie wurden überaus fündig. Von London aus zog "We Will Rock You" mit der Musik von Queen um die Welt und machte auch in Köln Station. Hamburg trumpfte mit "Buddy, Buddy!" (Holly) auf, und eine Show namens "Rat Pack" tourte mit der Musik des eben so genannten Trios Frank Sinatra, Dean Martin und Sammy Davis jr. über diverse Bühnen. Auf den Spuren von Pink Floyd wandelt "Behind the Wall", eine Produktion aus der Region, die seit ihrer Uraufführung 2003 in der Gegend gezeigt wird. Und schon locken neue Jukebox-Musicals, wie die Gattung etwas herablassend bezeichnet wird, das Publikum an den Broadway. Im Eugene O‘Neill-Theater hatte Anfang Februar die Show "Good Vibrations" Premiere, in der die Gute-Laune-Musik der Beach Boys applausmelkend zum Einsatz kam. Tücke des Versatzstück-Stücks: Wirklich dramatische Liebeslieder haben die kalifornischen Sunny-Surfboys nicht im Werkkatalog, und so muss der Held der Geschichte seine Herzallerliebste mit dem Song "Car Crazy Cutie" zurückgewinnen, in dem die permanent wiederholten Nonsense-Silben "doo run run" als Balzruf herhalten müssen. Was sich jedoch bestimmt nicht als hinderlich erweisen wird für eine baldige deutsche Premiere.Elvis Presley trifft William Shakespeare

Schwierigkeiten, den passenden Song zur passenden Situation zu finden, hatten die Urheber von "All Shook up" dagegen nicht - immerhin konnten sie aus rund 800 Songs des King of Rock‘n‘Roll, Elvis Presley, wählen. Er liefert posthum Musik zu einer Lovestory aus den 1950er Jahren, die eine Mischung aus Shakespeares "Was ihr wollt" und "Ein Sommernachtstraum" ist. Immerhin wurde der Show attestiert, sie habe das Zeug zu einem "big Broadway hit". Kunststück - mit der Musik ließe sich vermutlich auch das New Yorker Telefonbuch zu einem Pulitzerpreis-verdächtigen Theaterstück aufmöbeln. In diesen Tagen beginnen die Proben für ein weiteres, in musikalischer Hinsicht gewiss unanfechtbares Stück: "Lennon" erzählt mit 27 Songs die Lebensgeschichte des 1980 erschossenen Beatle. Die New Yorker Premiere ist am 21. Juli im Broadhurst Theatre. Im Prinzip ist die Story ein alter Hut in jeder Beziehung: Denn der Künstler ist längst auf diese Weise gewürdigt worden - vor rund 20 Jahren in einer musikalischen Revue am Bochumer Schauspielhaus. "John Lennon" von Uwe Jens Jensen, 1986 in der Ära Claus Peymann uraufgeführt, ist allerdings längst auf dem Papierfriedhof der abgespielten Stücke verrottet. Ein Schicksal, das den Nachfolgern aus New York und London wahrscheinlich ebenfalls blüht. Am Ende bleibt nur die Musik. Und das reicht, ehrlich gesagt, in den meisten Fällen vollkommen aus.

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