Weltschmerz, Wunder, Weisheiten

FRANKFURT. Großartiger Pop ohne Allüren, aber mit einer Prise Weltschmerz: Das englische Quartett Coldplay hat ihre komplett ausverkaufte Deutschland-Tour vor knapp 5000 Fans in der Frankfurter Jahrhunderthalle gestartet.

Chris Martin grinst angeblich nie. Was hätte der Sänger wohlEnde der Neunziger, so als 20-jähriger LondonerDurchschnitts-Student, zu dieser Prophezeiung gesagt: In fünfJahren füllst du mit Coldplay die großen Hallen in ganz Europa.Bekommst Grammys. Kannst dein Bad mit goldenen Schallplattenkacheln. Wirst als Retter des Pop gefeiert. Und Gwyneth Paltrowwill ein Kind von dir. Hätte das ein Lächeln in Martins Gesichtgezaubert? Szenenwechsel. Chris Martin krümmt sich über seiner Gitarre, Sekunden später springt er und dreht sich dabei in der Luft. Der Coldplay-Sänger, frisch verlobt mit Schauspielerin Paltrow, bringt die 5000 Fans in der ausverkauften Jahrhunderthalle zum Mitklatschen, fordert beim hoffnungsvollen "Everything's not lost" zum Mitsingen auf. Wenn Martin der schüchterne, unauffällige Mann ist, als der er beschrieben wird, wer ist dann der Typ auf der Bühne?

Willkommen auf dem inkontinenten Kontinent

Coldplay stellt zum Auftakt der Deutschland-Tournee in Frankfurt das neue Album "A Rush of Blood to the Head" vor. Es stimmt alles an diesem Abend: 90 Minuten lang rocken die vier Wahl-Londoner, angefangen mit den bedrohlichen Akkorden von "Politik" bis hin zur letzten Zugabe "Trouble", die Coldplay noch spielen, obwohl die Techniker schon voreilig die Saalbeleuchtung angeschaltet haben. Martin und Co. streuen dabei die Hits wie das grandiose "Yellow", "The Scientist" und als Zugabe "In My Place" ein. Von Minute zu Minute wird die Show dichter, atmosphärischer. Coldplay verbindet. Laserstrahl trifft auf Kunstnebel, krachende Gitarre auf zerbrechlichen Gesang und im Publikum steht der 45-jährige Banker neben der Schülerin, ohne mit ihr näher verwandt zu sein.

Da mag man kaum noch glauben, dass Oasis-Entdecker Alan McGhee vor gut zwei Jahren das Coldplay-Debüt "Parachutes" noch als "Musik für Bettnässer" bezeichnete. Vielleicht weil Coldplay ihre Träume, Hoffnungen und Gedanken in kleine Gitarren-Songs mit großen Melodien packen. Oder weil die vier Mittzwanziger so was wie die netten Jungs von nebenan sind. Trinken kaum, rauchen nicht, werfen sich keine Drogen ein. Das mag Schwiegermama Paltrow freuen, für Boulevard-Journalisten ist es Valium. Und es bietet - siehe McGhee - Angriffsfläche für geistige Stehpinkler. Das ist wirkliche Stärke von Coldplay: Ihre Musik verkauft sich, nicht ihr Image. Zugänglicher als Radiohead, wichtiger als Oasis, kantiger als Travis: Coldplay sind dabei, die englische Popgeschichte weiter zu schreiben - auch wenn sie vielleicht selbst daran zweifeln. "My star is fading", singt Martin in "Amsterdam". Dass Coldplays Stern so schnell untergeht, das glaubt man Martin nach dem eindrucksvollen Konzert in Frankfurt nicht. Und wenn der Coldplay-Sänger schon selbst nicht lächeln will, sei's drum: Er bringt Tausende andere dazu. Und das ist mehr wert.

Die Konzerte in Deutschland - heute spielt Coldplay in Düsseldorf, morgen in Böblingen - sind ausverkauft. Wer die Band demnächst in Deutschland sehen möchte, hat dazu beim Southside-Festival (27.-29. Juni) in der Nähe von Tuttlingen die Gelegenheit.

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