Zwischen Panorama und Panoptikum

Der Trierer Werbetexter und Autor Frank Jöricke hat seinen ersten Roman herausgebracht. "Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage" ist mindestens so unterhaltsam wie der Titel lang ist.

Wann lacht man schon mal lauthals beim Lesen eines Buches? Und das bei einer Protagonisten-Schar, die fast ausnahmlos aus tragisch gescheiterten Existenzen besteht - nur dass die meisten es nicht bemerken.Vorhang auf für Frank Jörickes Zeitmaschine. Sie katapultiert uns ins Jahr 1967, das Geburtsjahr des Ich-Erzählers, und wohl nicht ganz zufällig auch das des Autors. Von da ab geht es Jahr um Jahr weiter, in einer kunstvollen Verknüpfung von Welt-Ereignissen und den Erlebnissen mit der Familien-Bande in dem Hunsrück-Nest, wo die Hauptfigur lebt. Die Studentenunruhen und der Stalingrad-Opa. Willy Brandts Sturz und die Ehekrise der Eltern. Ayatollah Chomeini und die ersten sexuellen Erfahrungen. Boris Becker und Räucherstäbchen. Tschernobyl und das Abi. Sonnenfinsternis und Scheidungsdrama. Zeitgeschichte aus dem Blickwinkel der Hunsrückhöhenstraße, zwischen "Sodom Simmern und Gomorrha Morbach". Aber die handelnden Personen sind nicht nur Zaungäste, sie entwickeln ein Eigenleben, tauchen immer wieder auf, verschwinden, nehmen überraschende Wendungen oder landen genau da, wo man es von Anfang an vermutet hat. So wird aus der rückblickenden Anekdotensammlung ein Roman, manchmal fast lakonisch geschildert - ohne den Erzählfluss zu verlieren. Jörickes wortwitziger Tanz auf dem schmalen Grat zwischen Panorama und Panoptikum trifft auf den Punkt. Der neureiche Onkel, der Mercedes Diesel fährt, die Tante, die im religiösen Wahn landet, der Vetter, der sich seinen Lebtag mit Gaunereien durchschlägt, die hochbegabte, aber beziehungsunfähige Cousine, die Eltern, die so glücklich hätten werden können, wenn sie sich rechtzeitig getrennt hätten: lauter Existenzen, wie sie jeder in näherer oder fernerer Umgebung schon mal kennengelernt hat. Gut: manchmal ein bisschen zu klischeebeladen. Sicher übertrieben und zugespitzt. Aber doch durchaus der Realität abgeschaut, so wie der erste Spanien-Urlaub, die Disco-Szene, der Feminismus, die Friedens-Bewegung. Da legt man das Buch schon mal Minuten aus der Hand, weil einem beim innerlichen Grinsen über die komischen Akteure die eigene, gar nicht so andere Biografie wieder einfällt. Und da ist Jörickes Buch denn doch mehr als eine grottenkomische, mit leichter Hand geschriebene Zeitreise durch die letzten vierzig Jahre. Da erklärt einer seine Generation genauer, plastischer und plausibler als jede sozialwissenschaftliche Analyse. Für Leute von 35 bis 55 die ideale Gelegenheit, in die eigene Vergangenheit einzutauchen. Für Ältere die Chance, vielleicht doch noch zu verstehen, warum das alles damals so schwierig war. Und für Jüngere endlich eine Erklärung, warum ihre Alten so merkwürdig sind, wie sie sind.Am Ende, je mehr sich das Buch der Gegenwart nähert, wird es tendenziell tragischer. Auch wenn der Erzähler in eigener Sache ein positives Fazit zieht. Vielleicht sind die Zeiten einfach trüber geworden. Vielleicht ist der Spötter Frank Jöricke bei aller ironischen Distanz aber auch ein verkappter Nostalgiker. Dieter Lintz"Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage" ist im Solibro-Verlag erschienen und kostet im Buchhandel 19, 90 Euro. Nach dem Auslaufen des derzeitigen Fortsetzungs-Romans wird der TV das Buch abdrucken.

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