Kopfkino der feinsten Art: "Tschick" im Kapuzinertheater

Luxemburg · Das derzeit erfolgreichste und meistgespielte neue Stück in deutschen Theatern ist "Tschick" nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf. Die Aufführung des Deutschen Theaters Berlin im Luxemburger Kapuzinertheater erklärt, warum.

Luxemburg. Zwei vierzehnjährige Jungs machen sich auf den Weg. Sie haben einfach keinen Grund, zu bleiben, der Russlanddeutsche Tschick und das Wohlstandskind Maik. Ihre Eltern, sofern vorhanden, interessieren sich nicht für sie, bei den Partys der Klassenkameraden sind sie nicht eingeladen, die Schule geht ihnen sonstwo vorbei. Warum also nicht den "ausgeliehenen" blauen Lada nehmen und abhauen in die Walachei, wo Tschick ein paar Verwandte vermutet?
Gut, sie schaffen es nur von Berlin bis in die ostdeutsche Pampa, aber was soll\'s? Die Walachei ist im Bühnenbild von Rimma Starodubzewa ohnehin nur ein beleuchteter Schriftzug, wie eine Straßenreklame im Weihnachtsgeschäft. Davor wachsen Kakteen aus dem Boden, und an der Seite zelebriert ein Live-Gitarrist (Arne Jansen) seinen Blues, als wär\'s ein Stück von Ry Cooder. Der Traum vom Abhauen braucht keinen konkreten Ort, das kann Bukarest sein, Paris/Texas oder Zeulenroda.
Die Sprache, die Wolfgang Herrndorf und Bühnen-Autor Robert Koall dem ungleichen Duo Maik und Tschick schenken, ist ein Wunder an lakonischem Witz, unaufdringlicher Originalität und präziser Beobachtung. Da entsteht philosophische Tiefe, nicht aus Bedeutungshuberei, sondern aus einem Augenzwinkern, einem Wort, einer Geste. Da schmeißt sich kein Autor billig ran an die Jugendsprache, und doch kommt er seinen Protagonisten nahe.
Regisseur Alexander Riemenschneider zeichnet die Szenen eines sommerlichen Ausbruchs mit Geschick für den pausen- und bruchlosen Wechsel zwischen Tragik und Komik, und mit einem Händchen für seine Haupt- und Nebenfiguren, die allesamt bis zur Kenntlichkeit überzeichnet sind - aber eben nie zur Knallcharge degradiert werden.
Der entscheidende Kunstgriff ist dabei, dass nahezu alle Rollen dem Darsteller-Duo Sven Fricke und Thorsten Hierse anvertraut werden. Sie teilen sich nicht nur die Hauptfiguren, sondern spielen auch Eltern, Lehrer, Polizisten, Klassenkameraden. Das geht atemberaubend schnell, und ist trotzdem so überzeugend gelöst, dass man jede Volte versteht.
Die Leichtigkeit der jungen Schauspieler, zu denen sich Natalia Belitski als Mädchen auf einer Müllkippe gesellt, die gänzliche Abwesenheit von Larmoyanz und Geschwätzigkeit, die sich aufs Publikum übertragende Neugier: Das ist einfaches, großes Theater. DiL

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