Weckruf an die Nation

Gerolstein · Urban Priol tut das, was ihm am deutschen Durchschnittsbürger fehlt. Er regt sich auf. Gründe liefert die Politik zahllose, wie Priol in seinem dreistündigen Verbalmarathon im Gerolsteiner Lokschuppen 550 Gästen vor Augen führt. Der Großmeister liefert aktuelles politisches Kabarett mit Biss und hohem Unterhaltungswert.

Gerolstein. Politik und Gesellschaft treiben ihn an den Rand des Wahnsinns. Äußerlich manifestiert sich das in den zu Berge stehenden Haaren und dem obligatorischen schrillen Hemd. Mehr Requisiten benötigt Urban Priol nicht. Blaues Bühnenlicht noch und ein Weizenbier. Nur zwei Mal nippt er daran, obwohl er einen drei stündigen Redeschwall abbrennt. Darin beweist sich Priol wieder mal als einer der wenigen politischen Kabarettisten, der sich mit geistreicher Kritik am Zustand der Republik und seiner federführenden Gestalter weit über den Scheitelpunkt der Flachheiten blökenden Comedian-Welle erhebt.
Seine Kritik ist erfrischend aktuell und verblüffend allumfassend. Er liefert seine Gedanken in einem Hochgeschwindigkeitsrennen durch den Irrgarten der bundesrepublikanischen Politik. Mit Witz, Ironie, Sarkasmus und Parodie echauffiert er sich über Merkels Lobbyismus, Bischof Tebartz-van Elst, die Bildzeitung, die Flüchtlingspolitik der EU (bei der streunende Hunde auf Mallorca mehr Charity-Aufmerksamkeit erhalten, als die Toten vor Lampedusa), Auslandseinsätze der Bundeswehr, Ursula von der Leyens familienkompatible Umstrukturierung der Armee.
Außerdem nimmt er aufs Korn das Freihandelsabkommen mit den USA ("die bedingungslose Kapitulation vor der Industrie"), Krim-Krise, Berliner Großflughafen, Atomendlagersuche, die Ausspähaktion der NSA, die Digitalisierung des Lebens, der Weltklimagipfel als hohles Ritual, Steuerverschwendung und den mangelnden Datenschutz ...
Und wie reagieren die Bürger auf so viel Missstand im Land? Am liebsten gar nicht. Aber wenn es einmal pro Woche ein fleischloses Essen in der Kantine geben soll, dann sei das wahlentscheidend.
Priols Erklärung für das bürgerliche Desinteresse an den wichtigen Entwicklungen in der Politik: Das Netz und der Boulevard sind schuld. Sie narkotisieren, sobald der Bürger aufzuwachen droht. Also posaunt Priol den Weckruf hinaus. Er brennt, ist bissig bis böse und dabei so komisch, dass das Publikum aus dem Lachen kaum herauskommt.
Lieblingsziel seiner Attacken ist Kanzlerin Angela Merkel. In parodistischen Kurzversionen zitiert Priol sie zum großen Amüsement seines Publikums auch in Gestalt und Intonation. Das hat Priol auch bei Joachim Gauck, Horst Seehofer und fast dem gesamten Kabinett drauf.
Bundespräsident Gauck belegt übrigens hinter Merkel Platz zwei auf Priols Negativhitliste als "pastoraler Oberschwurbler", der auf alle Probleme die eine Antwort vorbetet: "Freiheit!" Zum Abschluss bläut Priol ein: "Es gibt nur eine Zeit, in der es wesentlich ist, aufzuwachen. Diese Zeit ist jetzt." Für diesen Spruch erhält er tosenden Applaus. sys

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