Der Richter, der schon im Knast saß

WITTLICH. Er wusste mit zwölf Jahren, dass er Richter werden will und kennt das Gefängnis - allerdings zu Studienzwecken - auch als Insasse: Karl Franz Russell war 35 Jahre lang Amtsrichter. Seit Anfang August genießt er den Ruhestand.

Damit er ein Schriftstück auch zu ungelegener Stunde noch möglichst flott auf den Schreibtisch bekam, ging Karl Franz Russell schon mal ungewöhnliche Wege. Auf dem Dikitierband versprach der Amtsrichter am Ende des zu schreibenden Textes einen Witz - er liebt Witze - und erreichte so immer sein gewünschtes Ziel. Auch bei der Vorbereitung auf sein Amt ging Russell einen ungewöhnlichen Weg: Er ließ sich im Gefängnis einsperren. Mit seinem Verwandten, dem Philosoph und Nobelpreisträger Betrand Russell, hat er auf diese Weise etwas gemeinsam. Auch dieser war im Gefängnis. Während der Philosoph jedoch wegen seiner pazifistischen Äußerungen eingesperrt wurde, ging es bei dem Juristen um Selbsterfahrung im Rahmen eines Uni-Seminars. Russell: "Ich wollte das Milieu und die Atmosphäre im Gefängnis kennen lernen." Drei Tage hielt es Russell als Juwelier-Dieb getarnt in der Drei-Mann-Zelle aus. Dann wurde die Auseinandersetzung mit dem "Zellen-Chef" zu gefährlich und er brach das auf zwei Wochen angelegte Experiment ab. Russells Fazit: "Ich hatte dort Gänsehaut von A bis Z. Es herrschte noch das Strafprinzip im Gegensatz zum heutigen Gedanken der Resozialisierung. Die Atmosphäre war dumpf und das Schlimmste war das Eingesperrtsein. Da fehlt einem ein Riesenstück Freiheit." Schon mit zwölf Jahren war dem gebürtigen Trierer klar, dass er Amtsrichter werden will. Inspiriert hatte ihn dazu sein im Zweiten Weltkrieg gefallener Vater, der das Amt ebenfalls ausübte. Dennoch, sei er ein ganz normaler Junge gewesen, meint der 65-Jährige. Auch er habe Baumhäuschen gebaut und Enten an der Lieser gejagt."Lebenserfahrung spielt große Rolle beim Strafmaß"

Studiert hat Russell in Köln und Mainz, seine ersten Erfahrungen als Richter sammelte er an den Amtsgerichten der Region, 1971 kam er nach Wittlich. Und wieder ist Freiheit ein Thema für ihn: "Ich habe die richterliche Freiheit geliebt, das bedeutet Recht zu sprechen nach eigenem Gewissen und im Namen des Volkes. Kein Vorgesetzter konnte mir im Einzelfall vorschreiben, wie ich zu entscheiden hatte." 35 Jahre lang war Russell Richter. 28 Jahre davon war er Vorsitzender des dreiköpfigen Schöffengerichts in Wittlich. Ein langer Weg auf der Suche nach Gerechtigkeit. Seine Bilanz fällt positiv aus: "Ein Maximum an Gerechtigkeit ist dann erreicht, wenn das Schöffengericht das Urteil einstimmig fällt und Staatsanwalt sowie Verteidiger keine Rechtsmittel einlegen. Das haben wir vielfach erreicht." Hatte er Angst vor der Macht, über die Freiheit der anderen zu entscheiden? "Für mich war das keine Macht, ich habe meine Pflicht erfüllt und wollte ein verantwortungsvoller Richter sein", sagt Russell. Nachgesagt wurde ihm, dass er im Alter weniger streng war. Das kann der Jurist nicht ganz verneinen. "Die Lebenserfahrung spielt eine ganz große Rolle beim Strafmaß. Mit der Erfahrung wächst das Verständnis." Schon immer habe er jedoch auf eine faire Verhandlung Wert gelegt. "Straftaten machen aus einem Menschen keinen Mindermenschen", so Russells Credo. Und trotz der vielen Verbrechen, von denen er mitbekommen hat, glaubt er an das Gute im Menschen. "Wäre die Sozialstruktur optimal, gäbe es auch keine Kriminalität. Je größer die Differenz zwischen Arm und Reich desto mehr Verbrechen." Doch die schwierigen Gedanken über Verbrecher und Verbrechen kann Russell jetzt hinter sich lassen. In seinem Ruhestand hat er nun endlich viel Zeit, seine handwerklichen Fähigkeiten zur Freude seiner Frau zuhause anzuwenden, sich um den Hund zu kümmern und zu malen.

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