Ergreifendes Schicksal einer jüdischen Familie

BERNKASTEL-KUES. (mbl) Knapp 20 Zuhörer kamen am Sonntag in die ehemalige Bernkasteler Synagoge zur Lesung von Stefan Kritten. Seit zwölf Jahren liest Kritten zur Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 aus ausgewählter Literatur.

Im Mittelpunkt der Gedenk-Aktion stand diesmal der 1934 erschienene und 1999 erneut herausgegebene Roman "Weg ohne Ende" des jüdischen Schriftstellers Gerson Stern. Der Roman stellt in ergreifender Weise das Schicksal jüdischer Familien und Gemeinden im Mitteleuropa des 17. und 18. Jahrhunderts dar. "Der Anlass zu meiner jährlichen Lesung, die anfangs im Cusanus-Geburtshaus stattfand, geht zurück ins Jahr 1989", sagt Kritten. Nach dem Mauerfall sollte der 9. November zum Nationalfeiertag werden, zu einem Tag der Freude. "Das hat mich sehr erschreckt", so Kritten. Denn der 9. November ist auch der Tag der Reichspogromnacht, als 1938 die nationalsozialistischen Machthaber gewalttätige Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland organisierten. "Der 9. November ist ein Tag, der es in sich hat, ein Tag, über den man nachdenken soll und muss", unterstreicht Kritten. "Weg ohne Ende", das Buch, das Kritten seinen Zuhörern vorstellte, ist ein historisches Dokument. Es greift Ereignisse aus der Zeit des 17./18.Jahrhunderts auf, es berichtet über das Schicksal des Juden Itzig, der sich mit seiner Familie 1722 im Weserstädtchen Wallhausen niederließ. Gebannt lauschten die Zuhörer den Auszügen des 330 Seiten umfassenden Romans , die Kritten auf lebendige, einfühlsame Art vorlas. Unter den Besuchern waren Stammgäste, aber auch solche, die zum ersten Mal kamen. So das Ehepaar Raimund und Gisela Haubrich aus Kues. "Uns interessiert dieses Thema sehr", sagt Gisela Haubrich. Außerdem habe sie auch eine besondere Verbindung zur Synagoge, sie sei hier in der Nähe aufgewachsen, "und ich wollte schon immer mal das restaurierte Gebäude von innen kennen lernen, denn hier in diesem Raum gab es früher mal eine Schreinerei, wo wir als Kinder noch im Sägemehl gespielt haben", so Gisela Haubrich. Die Zuhörer nahmen Anteil am Schicksal von Itzig und seinem jüngeren Bruder Abraham, dem Hass, der ihnen entgegenschlägt. "Mein Freund, dieses Buch sucht dich, es ist Geschichte, es ist ein Aufruf", verkündet das Vorwort. Aber das Buch erzählt nicht nur über Judenhass und Verfolgung, es berichtet auch über Freundschaft - über die Freundschaft zwischen dem Stadtmedicus Posse und dem Juden Itzig: "Er als Jude und ich als Christ, wir sind Brüder - traurige und glückliche", rezitiert Kritten. Judenverfolgungen gab es nicht erst zur Zeit der Nazis, sondern schon in früheren Jahrhunderten, betonte Kritten. Diese entsprangen damals aber nicht dem Rassenhass, sondern hatten ihren Ursprung vornehmlich in wirtschaftlichem Neid - die Juden durften früher nur Geldgeschäfte machen.Juden gab es in Bernkastel schon im 13. Jahrhundert

Die erste Erwähnung von Juden in Bernkastel stammt aus dem Jahre 1289. Hass, Verfolgung und Wiederaufnahme als lohnende Einnahmequelle - das erlebten auch die Juden in Bernkastel. Jede Gegend hatte damals ihre eigenen Judengesetze. Es falle schwer, heute im Jahre 2003 angesichts weltweiter Ereignisse noch daran zu glauben, dass die Menschheit die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehe, bemerkte Kritten. Angst mache ihm auch, wenn er Parallelen aufkeimen sehe, beispielsweise bei der Betrachtung der aktuellen Abschiebepraxis bei ausländischen Familien, die hier arbeiten, sich integriert haben und dann in die Fremde gestoßen werden. Fazit: Die Lesung zur Erinnerung an die Reichspogromnacht regte zum Nachdenken an und hätte mehr Zuhörer verdient. Das lag aber wohl auch am Termin am Sonntagmorgen. Spätnachmittags hätten sicherlich mehr Interessierte den Weg in die ehemalige Synagoge gefunden. Die musikalische Umrahmung der Lesung übernahm das Quartett Heidi Müllen, Karin Klein, Peter Mohrs und Bernd Liesenfeld.

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