Wahl im Wohnzimmer

DIERFELD. Eine Ortsgemeinde, eine Familie und ein Landwirtschaftsbetrieb in Personalunion: Zehn Menschen leben auf dem Gutshof in der Verbandsgemeinde Manderscheid und verbinden nachhaltige Ökonomie, Lokalpolitik und privates Leben. Die selbstständige Geschichte Dierfelds geht zurück bis ins 16. Jahrhundert.

Nicht weit vom modernen Industriegebiet Wallscheid gehen die Uhren scheinbar anders: Über eine schnurgerade schmale Allee, als Sackgasse gekennzeichnet, fährt man einen Kilometer in die weite Landschaft hinein, bis ein von Bäumen umrahmtes Anwesen auftaucht. Keine anderen Häuser weit und breit, stattdessen Ruhe pur.Keine Schulden, keine Arbeitslosen

Hier erbauten im 16. Jahrhundert die Grafen von Manderscheid ein Jagdhaus und überließen es später ihren Verwaltern Rüth von Aspe. Im Laufe der preußischen Geschichte ging das Anwesen schließlich an Hermann von Greve über, den Vater des heutigen Besitzers Gerhard von Greve-Dierfeld. Der ist nicht nur Ortsbürgermeister, sondern auch Familienoberhaupt und Firmenlenker eines Betriebs, der vor allem mit der Forstwirtschaft solides Geld verdient. Die Gemeindemitglieder lassen sich exakt an zwei Händen abzählen, "aber zunächst waren wir nach dem Krieg 48 Einwohner, weil Flüchtlinge hier lebten", schildert von Greve-Dierfeld die Vergangenheit der kleinsten selbstständigen Gemeinde mit eigenem Rat in Deutschland. Eine moderne Gemeinderatswahl in Dierfeld wird von einem Mitarbeiter der Verbandsgemeinde begleitet - wegen des Protokolls. Sie läuft am offenen Kaminfeuer so korrekt und formell ab wie überall im Land. Da verliest die ehrenamtliche Beigeordnete offiziell die Ernennungsurkunde des frisch gewählten Bürgermeisters und schüttelt ihm würdevoll die Hand - auch wenn es Regina von Greve-Dierfeld ist, die ihren Ehemann zur Bestätigung im Amt beglückwünscht. Drei der fünf Kinder der Greve-Dierfelds haben einen anderen ehrenamtlichen Job: Sie sind der Rechnungsprüfungsausschuss. Selbstverständlich ist die Wahl geheim, und über die Einhaltung aller Formalitäten wird strengstens gewacht. Nicht selbstverständlich sei es, so räumt das Gemeindeoberhaupt mit einer Portion Selbstironie ein, dass die Mandatsträger wie dieses Mal mit hundertprozentiger Zustimmung der fünf anwesenden Wahlberechtigten gewählt werden. Acht der zehn Einwohner sitzen im Gemeinderat. Sie haben sich verpflichtet: zur Verschwiegenheit und zum Wohle der Gemeinde. Vermutlich ist Dierfeld tatsächlich die ökonomisch gesündeste Kommune im ganzen Land. Schulden gibt es nicht, stattdessen eine grundsolide Finanzausstattung. Arbeitslosigkeit ist völlig unbekannt, und auch mit der gefürchteten demografischen Entwicklung gibt es in absehbarer Zukunft kein Problem, denn anders als etliche größere Dörfer im Land ist diese Kleinsteinheit nicht vom Aussterben bedroht: "Wir haben ein Durchschnittsalter von 38 Jahren, 20 Prozent der Einwohner sind unter sechs Jahren alt", verkündet der Bürgermeister. Teure Prestigeobjekte sind in Dierfeld unbekannt, "und wenn die Einwohner ein Schwimmbad haben wollten, dann wüsste jeder, dass er dann jährlich 5000 Euro dafür ausgeben müsste". Klare Verhältnisse also. Der Stolz über so viel bürgerliche Vernunft ist spürbar. "Bild" und das Fernsehen haben über die kleinste Ortsgemeinde Deutschlands berichtet. Etwas weniger Aufmerksamkeit wäre den Dierscheidern allerdings sehr recht. "Wir werden beguckt wie ein zweischwänziges Kalb", erklärt von Greve-Dierfeld, "und das ist bisweilen nicht so angenehm." Eine Menge Erstaunen darüber, dass Dierfeld in den Augen anderer so erstaunlich ist, drückt sich in der Zurückhaltung der Familie und Gemeinde von Greve-Dierfeld aus. Schließlich sind sie doch "nur" eine ordnungsgemäß arbeitende kommunale Gebietskörperschaft, die so haushalterisch vorgeht, dass die Hebesätze bei 900 anstatt bei den üblichen 300 Prozent liegen, denn: Der Bürgermeister muss die ihm zustehende Aufwandsentschädigung für sein Ehrenamt in voller Höhe annehmen. Gesetz ist Gesetz.

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