Fünf Freunde und das unsichtbare Kind

TRIER/WASSERLIESCH. Die eigenen Probleme erscheinen ihnen plötzlich klein: Fünf Jugendliche haben sich in Kinder von Alkoholkranken hineingedacht – und 800 Euro für den Kinderschutzbund zusammengetragen.

"Ich will dir schreiben, was mir schon seit Jahren am Herzen liegt. In der Kindheit bemerkte ich deine Sucht nicht, und du warst der perfekte Vater. Bis ich anfing nachzudenken." Gaby Gondring ist Katechetin. Sie steht dort, wo normalerweise die Fürbitten gesprochen werden und liest aus einem Brief vor, den ein Mädchen an seinen alkoholkranken Vater geschrieben hat. "Immer öfter hörte ich dich und Mutter streiten. Glaubte, es sei meine Schuld, und hatte den Wunsch zu sterben, um für das zu büßen, was zwischen euch schief lief. Ich glaubte, ein schlechter Mensch zu sein. Irgendwann begriff ich warum! Vater ist alkoholsüchtig." Manchen der Menschen, die ihr von den Kirchenbänken aus zuhören, ist anzusehen, dass das Schicksal des Mädchens sie berührt. Der Grund, warum die Frau dort steht und liest, sind fünf Freunde, die sich etwas in den Kopf gesetzt haben: Odessa und ihr Bruder Raymundo König, Ralph Rindermann, Sabine Thies und Katja Walter. Sie kommen aus Wasserliesch und Konz-Könen, besuchen verschiedene Schulen, sind unterschiedlich alt (14 bis 17 Jahre), der eine spielt Rugby und möchte Industriemechaniker werden, die andere Grundschullehrerin oder Arzthelferin: Kurzum, auf den ersten Blick scheinen die fünf wenig mehr gemeinsam zu haben als ihren Firmunterricht. Doch der Eindruck täuscht. Die Jugendlichen kennen sich seit Langem und haben entschieden, mehr aus den Wochen der Vorbereitung zu machen als viele andere Firmgruppen. Ein richtiges Projekt sollte es sein. Ein Projekt, das Kindern hilft, deren Leiden normalerweise totgeschwiegen wird. Und so kamen sie zu "Lichtblick", einer Fachstelle des Kinderschutzbundes, die sich um Kinder Alkoholkranker kümmert. Zwei Tage lang haben sich die Jugendlichen mit Therapeutin Ute Isselhard-Thinnes ins Thema eingearbeitet: versucht zu verstehen, was in den Kindern vorgeht, zu lernen, in welche Rollen sie schlüpfen, um ihren schwierigen Alltag zu bewältigen. Seitdem sehen die fünf einiges anders. Klar haben auch sie mal Probleme. "Aber das sind ja nur so kleine Sachen", sagt Raymundo. Mal eine schlechte Note, mal ein Streit. Für Kinder aber, deren Eltern trinken, sei das ganze Leben nicht mehr richtig. Höhepunkt des Projekts war ein Gottesdienst, den die fünf selbst gestaltet haben. "Unser Ziel war, dass sich Menschen mit dem Thema auseinandersetzen", sagt Odessa König, die mit 17 Jahren Älteste der Gruppe. "Nebenbei" haben sie in Wasserliesch 800 Euro für "Lichtblick" gesammelt. Im Gottesdienst schlüpfen Sabine, Katja, Raymundo und Ralph pantomimisch in je eine von vier Rollen, die Kinder von Alkoholkranken oft übernehmen, während Odessa den dazugehörigen Text vorliest. "Bei Kim weiß man nie, ob sie überhaupt im Unterricht war. Sie ist still, meldet sich kaum jemals. Oft guckt sie aus dem Fenster und träumt", liest Odessa. Kim ist "das unsichtbare Kind". Ihre Mutter empfindet sie als pflegeleicht und ist froh, dass Kim sie nicht fordert. Mit ihrem trinkenden Mann und den Geschwistern hat sie schließlich schon genug zu tun. In ihrem Schmerz und ihrer Einsamkeit fragt sich "das unsichtbare Kind", ob sich überhaupt jemand für es interessiert. "Der traurige Held", "das schwarze Schaf" und "der Clown" sind weitere Rollen, in die Kinder von Alkoholsüchtigen schlüpfen. Der erste will mit guten Noten und vorbildlichem Verhalten die Familienehre wahren. Der zweite klaut, prügelt sich, hat schlechte Noten und lungert mit seiner Clique rum - und lenkt so erfolgreich davon ab, dass sein Vater ständig besoffen und aggressiv ist. Der Clown hingegen sorgt für gute Stimmung, schwatzt und albert und ist doch immer angespannt. Er ahnt, dass etwas nicht stimmt mit seiner Familie. "Ich finde, das war unglaublich mutig", sagt Isselhard-Thinnes über das Engagement der fünf Jugendlichen. Und Mut scheint in der Tat nötig zu sein, denn: "Es ist uncool, sich sozial zu engagieren", sagt Odessa. Mit einem Gottesdienst - und sei er noch so gut gemacht und für noch so einen guten Zweck - bekommt man von Gleichaltrigen vermutlich keinen Preis für besondere Lässigkeit. Das Mädchen, das sie nur aus einem Brief kennen, das unsichtbare Kind, der traurige Held und viele andere Kinder, die unter der Alkoholsucht ihrer Eltern leiden, sind auf solchen Mut angewiesen. Denn Spenden wie diese ermöglichen ihnen einen "Lichtblick".

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