Jedes Mal ein kleines Erdbeben

HERFORST. Direkt neben der Start- und Landebahn haben die auf der Air Base Spangdahlem stationierten Amerikaner in den 70er Jahren einen Golfplatz angelegt. Dass auf dem Gelände einst ein kleines Dörfchen stand, wissen heute nur noch wenige. Vor 40 Jahren wurde Kammerforst dem Erdboden gleich gemacht.

"Da vorne", sagt Klaus Hirschfeld und zeigt auf zwei alte Bäume hinter dem Zaun, "genau zwischen der Esche und der Weide stand unser Haus." Wenn Klaus Hirschfeld "alle paar Wochen" wieder einmal die Sehnsucht packt, spaziert der Herforster an die Stätte seiner Kindheit. "Hier", sagt der 63-Jährige, während die Autos auf der viel befahrenen Bundesstraße 50 zwischen Binsfeld und Spangdahlem vorbei rauschen, "hier bin ich groß geworden." Vor Angst unter den Tisch gekrabbelt

Klaus Hirschfeld stammt aus Kammerforst, einem kleinen Eifelort, der heute auf keiner Straßenkarte mehr auftaucht, weil es ihn nicht mehr gibt. Ende November 1962 rückten die Bagger an und walzten den aus fünf Wohnhäusern bestehenden Hof in wenigen Tagen platt. Wären da nicht die alte Esche und die Weide, müsste sich auch Klaus Hirschfeld vermutlich jedes Mal neu orientieren, um auf dem kurz gemähten Golfplatzrasen den ehemaligen Standort seines Elternhauses auszumachen. Dank der beiden Bäume aber fällt es dem Rentner leicht, den Überblick zu bewahren. "Wenn ich hier stehe", sagt Hirschfeld und schaut zwischen den Bäumen durch, "sehe ich sogar noch mein Zimmer." Klaus Hirschfeld war einer der Letzten, die Kammerforst im Winter 1962 verließen. Franz-Josef Schnur und seine Ehefrau Edith kehrten "Komafooscht" schon fünf Jahre früher den Rücken. "Es war unerträglich geworden mit dem Lärm", sagen die beiden heute. Wenn die Jets der Amerikaner von der Air Base Spangdahlem abhoben oder landeten, bebte in Kammerforst die Erde. "Wenn andere Kinder uns besucht haben, sind die vor Angst unter den Tisch gekrabbelt", erzählt Edith Schnur (69). Sie selbst habe sich nur die Ohren zugehalten - "sonst hat es weh getan". Als der Flugplatz Anfang der 50er Jahre gebaut wurde, bekam Kammerforst eine Gnadenfrist. Wenige Meter hinter dem Ende der Rollbahn wurde ein Zaun gezogen, ein paar Meter weiter lag das Hofgut. Startende oder landende Jets flogen so dicht über die Gebäude hinweg, "dass wir den Piloten in die Augen schauen konnten", erzählt ein ehemaliger Bewohner. Und mehr als einmal missglückte ein Start. Zum Beweis legt Josef Wilwerding unzählige Fotos auf den Tisch, die der heute in Dudeldorf lebende Kammerforster von den glimpflich verlaufenden Bauchlandungen und den tragisch geendeten Abstürzen geschossen hat. Wie ein Wunder blieb Kammerforst in all den Jahren von einer Tragödie verschont. Doch irgendwann hatten seine Bewohner genug von den zunehmenden Flügen, dem immer stärker werdenden Lärm und der permanenten Gefahr, Opfer eines außer Kontrolle geratenen Militärjets zu werden. Mit der Abgeschiedenheit und ländlichen Idylle des zwischen Herforst und Dudeldorf gelegenen Gehöfts war es ohnehin vorbei, seit mit dem Flugplatz auch eine neue Straße gebaut wurde und Kammerforst auf einmal nicht mehr am Ende der Welt lag, sondern irgendwie mittendrin. Sogar Strom, einen Telefonanschluss und eine kleine Kneipe mit Fremdenzimmer gab es plötzlich "auf dem Hof". Nur ihr Wasser schöpften die Kammerforster bis zum Schluss aus einem 300 Meter talabwärts gelegenen Brunnen. Bis die letzten Mitglieder der Familien Juchems, Meiers, Servatius/Hirschfeld, Kasel und Wilwerding das Hofgut verließen und in eines der umliegenden Dörfer zogen, wurde mit dem Bundesvermögensamt noch ein wenig um die Entschädigung gefeilscht. Zwischen 25 und 30 000 Mark bekam schließlich jede Familie für die aus dem 18. Jahrhundert stammenden Gebäude, dazu ein paar tausend Mark fürs Land. "Aber was ist das schon", fragt ein ehemaliger Kammerforster, "wenn einer alles hinter sich lassen und irgendwo völlig neu anfangen muss." Wenn Edith Schnur heute über die B 50 fährt, vorbei am Zaun der Air Base Spangdahlem, vorbei an den beiden alten Bäumen auf dem Golfplatz, die den Abriss von Kammerforst wie ein Wunder überlebt haben, denkt die 69-Jährige nicht mehr an die Zeit von damals zurück. "Das Kapitel ist vorbei", sagt die heute in Newel lebende Kammerforsterin emotionslos. Klaus Hirschfeld kann das nicht verstehen. "Das war doch meine Heimat", sagt der 63-Jährige und schaut wehmütig in Richtung der beiden alten Bäume. "Und die kann ich einfach nicht vergessen." (Ein ausführlicher Beitrag über Kammerforst erscheint im Juni in den Landeskundlichen Vierteljahresblättern der Trierer Gesellschaft für nützliche Forschung. Autor ist der Historiker Ernst Lutsch. Informationen gibt's unter Telefon 0651/718-4420.)

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