Um das Leben gebettelt

In Langsur wäre es beim Einmarsch der Amerikaner fast zu einer Tragödie gekommen. Ein deutscher Offizier schoss aus dem Hinterhalt auf die einrückenden Soldaten und entfachte so deren Hass neu.

In Langsur machte am 11. September 1944 morgens um 6 Uhr der Ortsgruppenleiter der Partei mit der Ortsschelle die Räumung unseres Dorfes bekannt. Dies war die zweite Evakuierung nach dem 1. September 1939, wo wir bis nach Ostdeutschland (unter anderem Nordhausen im Harz) fliehen mussten. Damals war alles organisiert und wir wurden mit der Bahn befördert. Dieses Mal mussten die Menschen sich, ob mit Kuh- oder Handwagen oder zu Fuß, auf die Flucht begeben. Ein Teil der Leute zog über die Brücke in die Stollen des nahe gelegenen Kalkwerks auf der Luxemburger Seite der Sauer, in die die Menschen von Wasserbillig und Mertert schon geflüchtet waren. Die deutsche Wehrmacht forderte dann die Langsurer auf, innerhalb von 24 Stunden den Stollen zu verlassen und auch das Dorf. Am Tag danach, dem 13. September, wurden dann die Eisenbahnbrücke der Prinz-Heinrich-Bahn über den Wolfsbach und unsere Wirtschaftsbrücke über die Sauer gesprengt. Meine Familie - Großmutter, Eltern, Bruder, Schwester und ich - fuhren mit einem Kuhgespann und Wagen voll gepackt in zwei Tagesmärschen zu Verwandten nach Scharfbillig bei Bitburg. Vieh, Wein und alles andere mussten wir zurück lassen. In Scharfbillig angekommen, trafen wir einen Flüchtling aus Bollendorf an der Sauer, der mit dem Fahrrad im Nachbarort Röhl etwas zu erledigen hatte und mich mitnahm. Wir waren gerade 200 Meter gefahren, als amerikanische Jagdflieger angeflogen kamen und einer auf uns schoss und den armen Mann am Arm traf, welcher ihm dann von einem Sanitäter unter schrecklichen Schmerzen amputiert wurde. Ich hatte sehr viel Glück und wurde nicht ernstlich verletzt. Es folgten Nächte mit stundenlangem Artilleriefeuer, die uns im Keller Hausenden zitternd und betend in Todesangst auf ein Ende hoffen ließen. Da lief draußen jemand auf unser Haus zu. Ein Aufschrei der von Splittern getroffenen Person und dann ein Stöhnen und Wimmern und Sterben in dem andauernden Granathagel. In einer kurzen Feuerpause stürmten mein Bruder und ein Onkel nach draußen, da lag ein junger Soldat, er war bereits tot. Wir hatten zuerst gedacht, es wäre unser Vater, der da draußen auf unser Haus zulief. Nach dieser besonders schrecklichen Nacht kamen dann nach einer Stille die Amerikaner mit Panzern und Infanterie. Im tiefer gelegenen Dorf kam plötzlich ein junger deutscher Leutnant aus einem Keller gestürmt und schoss mit einer Maschinenpistole auf eine Gruppe amerikanischer Soldaten. Durch diese für uns unsinnige Tat wurde der Hass auf die Deutschen wieder angefacht. Wir wurden aus dem Keller geholt und mussten uns im Hof in einer Reihe aufstellen. Nun arbeiteten bei uns schon länger zwei französische Kriegsgefangene, Schorsch und Daniel. Sie lebten und arbeiteten mit uns und aßen mit uns am Tisch, obwohl Letzteres verboten war. Plötzlich fingen beide draußen im Hof an zu weinen. Schorsch, der den Wortführer verstand und etwas dolmetschte, sagte, dass sie uns erschießen wollten! Beide haben um unser Leben gebettelt und gesagt, dass sie gut behandelt worden seien und hier keine Nazis wären. Wer weiß, was passiert wäre, wenn nicht plötzlich Alarm gekommen wäre. Ein Bürger, der nervlich krank war, war ausgerissen und lief oberhalb unseres Hofes in Richtung Sülm. Er wurde erschossen. Durch den Alarm wurden wir alle wieder in den Keller geschickt und überlebten. Im Frühjahr zogen wir ohne Vater, der in Gefangenschaft war, nach Hause. Erwin Weber, Langsur, Jahrgang 1934

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