Erinnerungen an den 59er werden wach

TRIER-SAARBURG. Goldgelb und zuckersüß: So präsentieren sich die Riesling-Trauben in den Steillagen. Dabei wird die Lese erst im Oktober beginnen.

Winfried Reh pickt sich wahllos eine Beere vom Rebstock, drückt ein wenig Saft aus und verteilt ihn auf den Siegel des Refraktometers. Dann der spannende Blick ins Messgerät: 80 Grad Oechsle. Reh holt eine nicht so schöne Traube vom Stock. Einige Beeren sind schon verschrumpelt. Der Winzer presst sie mit kräftigem Handdruck zusammen und wiederholt den Vorgang mit dem Gerät, das den Zuckergehalt misst: knapp 75 Grad Mostgewicht. Zum Schluss pflückt er eine kleine goldgelbe Beere: 90 Grad Oechsle!Normalerweise jubeln die Winzer, wenn sie Mitte Oktober solche Reifegrade vorfinden. Doch es ist Anfang September. "Wenn die Witterung nur einigermaßen so bleibt, bekommen wir einen Wein, wie seit 50 Jahren nicht mehr", sagt der Winzer aus Schleich.Neue Erfahrung für die jungen Winzer

Wer ein wenig rechnen kann und zudem über die Weinhistorie Bescheid weiß, ist sofort im Bilde. Wenn Reh Recht behält, wird der legendäre 1959er einen Nachfolger finden. Um kein Missverständnis aufkommen zulassen: Die Winzer an Mosel, Saar und Ruwer haben seither noch viele andere große Jahrgänge eingefahren. Doch was sich derzeit ankündigt, haben zumindest die jüngeren Winzer noch nicht erlebt.Reh steht an diesem Morgen an exponierter Stelle: in einem seiner besten Weinberge in der Lage "Mehringer Blattenberg". Nicht überall werden schon solche Mostgewichte erreicht."Beim Riesling liegt das Mostgewicht derzeit im Mittel bei 57 Grad Oechsle", vermeldete Henning Mader (Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt Trier) Ende vergangener Woche. Mittlerweile dürften einige Grad mehr draufgesattelt sein.Erst der Vergleich macht die Dimension deutlich: "Im Vorjahr hatten wir zur gleichen Zeit einen Mittelwert von 37 Grad Oechsle", sagt Mader. Wer das für niedrig hält, liegt falsch. Im September und Anfang Oktober legen die Trauben, wenn das Wetter stimmt, bis zu einem Grad pro Tag zu.Henning Mader ist seit 1968 mit Wein beschäftigt. "Doch so etwas, wie in diesem Jahr habe ich noch nicht erlebt", sagt er mit Blick auf das Wetter.Speziell die tropischen Temperaturen Anfang August waren ihm bis dato fremd. Auch an eine derart lange Niederschlagspause kann er sich nicht erinnern.Diese Extremsituationen finden ihren Niederschlag. Junge Anlagen und Rebhänge auf sandigen Böden hätten gelitten, sagt der Experte. Ihre Wurzeln reichten nicht so tief, um noch an Wasser zu gelangen. "Das Laub ist teilweise regelrecht verbrannt oder verbrüht", sagt Mader. Deshalb sei insgesamt im Anbaugebiet mit Ernteeinbußen von bis zu 40 Prozent (gegenüber dem Vorjahr) zu rechnen. Die Menge an Trauben sei in Ordnung, doch der Extrakt nicht so ergiebig."Die Rebe verdunstet bis zu fünf Liter Feuchtigkeit am Tag", erläutert Mader. "Wenn sie nicht genug Wasser hat, verbrennen oder vergilben die Blätter." Und ohne den Schutz der Blätter bleiben manche Trauben auf der Strecke oder in ihrer Entwicklung stehen.In den Steillagen wird der Verlust überschaubar bleiben, glaubt Winfried Reh. Die Trauben seien gesund, Fäulnis oder Krankheiten nicht zu erwarten. Derzeit sei alles perfekt für einen außergewöhnlichen Jahrgang.Auch wenn die Trauben einen gewaltigen Reifevorsprung haben, glaubt Reh nicht, dass der Riesling ungewöhnlich früh gelesen wird. "Um den 10. Oktober herum könnte es los gehen", sagt er.Die frühen Rebsorten, wie der Müller-Thurgau, werden nach Auskunft von Henning Mader ab dem 20. September gelesen. "Wenn es nicht viel regnet", schränkt er ein. Sollte viel Niederschlag fallen, wird die Lese früher beginnen.Beim Riesling können sich die Winzer bereits auf einen Fakt einstellen: Sie werden fast nur Moste im Prädikatsweinbereich einlagern. Ob der Markt dafür vorhanden ist, kann derzeit niemand voraussagen. Allerdings muss auch niemand Angst vor Übermengen haben. Vielleicht treibt das ja die Nachfrage und die Preise nach oben.Henning Mader übrigens nimmt das Wort "Jahrhundertwein" (noch) nicht in den Mund. Doch auch er weiß, dass der 2003er das Zeug zu etwas ganz Besonderem hat.

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