"Ich bevorzuge den Begriff Synagogenbrandnacht"

Trier · Fünf Fragen an Privatdozent Dr. Olaf Blaschke von der Uni Trier, dessen Forschungsschwerpunkte im Fachbereich Neuere und Neueste Geschichte unter anderem der Antisemitismus, Nationalsozialismus und die Deutsch-jüdische Geschichte sind.

TV: Noch in den Geschichtsbüchern aus den 80er Jahren wird von der "Kristallnacht" gesprochen. Seit wann und warum benutzen wir heute den Begriff "Reichspogromnacht"?

Dr. Olaf Blaschke: Schon 1938 wurden die Begriffe verwendet. Die Anweisung Reinhard Heydrichs in jener Nacht sprach von "Demonstrationen gegen die Juden". Kritiker nannten sie "Pogrom". Der Berliner Witz erfand das Wort Reichskristallnacht, nicht nur wegen des Glasbruchs, sondern weil die Vorsilbe "Reichs"- eine spöttische Spitze hatte wie beim Reichstrunkenbold Robert Ley und der Reichswasserleiche Kristina Söderbaum. Trotzdem vereinnahmten die Nationalsozialisten bald den Begriff. Er verharmloste die Sache. Deshalb wird er spätestens seit 1988, als sich das Datum zum 50. Mal jährte, mit Vorsicht und in Anführungsstrichen verwendet. Aber auch der Ersatz "Reichspogromnacht" ist unglücklich, weil es ja keine spontanen Pogrome aus dem Volk heraus waren. Ich bevorzuge den Begriff Synagogenbrandnacht, obwohl auch Geschäfte und Friedhöfe zerstört wurden.

TV: Hatte Hitler die fabrikmäßigen Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung von Anfang an geplant oder steht der 9. November 1938 für den eigentlichen Beginn der Shoa?

Dr. Olaf Blaschke: Beides ist höchst fragwürdig. Das Regime strebte damals noch die Ausweisung der Juden an und errichtete dafür im Januar 1939 eine Zentralbehörde. Von einer programmatischen Planung der Massenmorde spricht heute kaum ein ernst zu nehmender Historiker mehr. Diese Art "Intentionalismus", die alles aus Hitlers "Mein Kampf" ableitet, wäre allzu naiv. Zweifellos leitete der 9./10. November 1938 einen weiteren Schritt in der Verfolgungseskalation ein. Aber 1938 waren ja schon andere ausgrenzende Maßnahmen getroffen worden: Seit Juli mussten Juden in amtlichen Dokumenten die Namen Israel bzw. Sara führen. Seit Oktober prangte ein großes J in an Juden ausgegebenen Pässen. Der Synagogenbrandnacht folgten Verhaftungen, Geldstrafen und Arisierungen. Spätestens im November ging vielen jüdischen Deutschen auf, dass sie Rechtlose waren. Deshalb steigerten sie ihr Bemühen, auszuwandern.

TV: Die NS-Propaganda spricht von einer "spontanen Aktion der kochenden Volksseele" auf die Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris durch einen Juden. Was sind die wahren Ursachen?

Dr. Olaf Blaschke: Zuschauern war damals schon klar, dass es sich nicht um eine pogromähnliche Volksaktion handelte, sondern um einen organisierten Exzess. Als die Mannheimer Steinsynagoge nicht brannte und nach aufwändigen Vorkehrungen fachmännisch gesprengt wurde, lachten die Leute: das also bringe der "spontane Volkszorn" zustande. Herschel Grynszpans Attentat war nur der Anlass. Das Regime hatte rund 17.000 polnische Juden, darunter seine Eltern, in einer Blitzaktion des Reiches verwiesen. Aber die Polen wollten sie auch nicht haben. An diese unmenschliche Maßnahme vom 28. Oktober 1938 erinnert sich kaum noch jemand. Die Ausschreitungen waren nicht von langer Hand geplant, sondern eine Idee, die Goebbels am 9. November bei der Parteiversammlung in München vortrug, die dort wie jedes Jahr des 9. Novembers 1923 gedachte. Goebbels wollte die Gunst Hitlers wieder erlangen. Sofort wurden telephonisch Anweisungen erteilt. Gerade die Novemberexzesse sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie planlos das Regime vorging.

TV: Wer heute den Begriff "Reichspogromnacht Trier" googelt, erhält 176.000 Ergebnisse, "Reichskristallnacht Trier" kommt immerhin noch auf 83.900 Ergebnisse, darunter sind zahlreiche Videos mit Zeitzeugen-Berichten. Inwieweit beeinflusst das Internet die historische Forschung?

Dr. Olaf Blaschke: Berufshistoriker müssen sich auf zuverlässig überlieferte Quellen und seriöse Literatur stützten. Ein winziger Bruchteil davon findet sich im Internet. Wenn man damit umgehen kann, hilft es der Forschung ungemein. Googlebooks erspart manchen Bibliotheksgang. Interviews und schwer zugängliche Originalfilmaufnahmen sind ein großer Gewinn für Forschung und Lehre. Manchmal blockiert das Internet auch den Erkenntnisfortschritt, etwa wenn man dauernd Beiträge von Amateuren zu Wikipedia richtig stellen muss. Dort hieß der Artikel bis 2006 übrigens "Reichskristallnacht". Heute wird man umgeleitet zum Artikel "Novemberpogrome 1938".

TV: In Trier wird viel für die Erinnerung an den 9. November 1938 getan. Der Oberbürgermeister legt gemeinsam mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde einen Kranz an der Gedenk-Stele am Zuckerberg nieder, die Arbeitsgemeinschaft Frieden erinnert mit vor ehemaligen jüdischen Häusern verlegten "Stolpersteinen" an jüdische Mitbürger, Interessenten können am Stadtrundgang "StattFührer - Trier im Nationalsozialismus" teilnehmen. Warum ist das Gedenken an die Reichspogromnacht wichtig?

Dr. Olaf Blaschke: Weil die Gotteshäuser der jüdischen Nachbarn zerstört wurden. Die Spuren dieses barbarischen Fanals der Entwürdigung inmitten der eigenen Wohnorte sind noch heute sichtbar. Der 9. November erinnert daran, wohin es führen kann, wenn Minderheiten diskriminiert werden. Die Nationalsozialisten hatten mit dem Antisemitismus nicht angefangen, aber ihn maßlos in den Rassismus gesteigert und in einen mörderischen Erlösungsantisemitismus überführt. In Trier war der Boden für judenfeindliche Vorurteile übrigens gut vorbereitet worden durch die katholische Presse des Kaplans Georg Friedrich Dasbach. Auch daran sollte man an diesem Tag in Trier erinnern.

TV: Herr Dr. Blaschke, wir danken für das Interview.

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