Im künstlichen Nebel

Viele deutsche Zivilisten erlebten vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs Wochen und Monate in halbwegs sicheren Unterkünften, in die sie evakuiert worden waren. Auch Josef Wagner aus Serrig an der Saar mit seiner damals hochschwangeren Mutter und seinen drei Geschwistern teilte dieses Schicksal, das für sie glücklich endete.

Bereits im September 1944 wurde die Bevölkerung von Serrig von der damaligen Kriegsleitung (NSDAP) wenn auch irrtümlich - Verwechslung mit Körrig, links der Saar - zur zweiten Evakuierung, diesmal in den Hunsrück, aufgefordert. Nur zögernd wurde diesem Aufruf zum Abtransport von den Serriger Familien, alleinstehende Mütter mit Kindern und älteren Leuten, gefolgt. Auch meine damals hochschwangere Mutter, meine jüngste Schwester kam am 28. Oktober 1944 zur Welt, versuchte folglich, den Evakuierungstermin so weit wie nur möglich hinaus zu schieben. Vorsorglich hatte meine Mutter jedoch über ihren Bruder Peter (damals Feld-Gendarm in Trier) eine Notunterkunft in Hinzert reserviert und auch unsere wertvollsten Sachen und Kleider dorthin bringen lassen, für den Ernstfall. Noch vor Weihnachten 1944 wurde die Vermieterfamilie von der örtlichen NSDAP-Leitung wegen des leer stehenden Wohnraums stark bedrängt und musste eine siebenköpfige Familie aus dem Raum Merzig aufnehmen. Kurz darauf wurde Hinzert durch einen Fliegerangriff der Alliierten bombardiert. Das genannte Haus traf eine sehr schwere Bombe, die erst im Keller explodierte und alle dreizehn Bewohner tötete. Am 16. Januar 1945 kam mein Vater, als Soldat an der Ostfront, wegen zweier Sterbefälle in der Familie für drei Tage auf Sonderurlaub (natürlich mit Verspätung, der Cousin und Opa waren bereits beerdigt). Auf Grund der traurigen Ereignisse unserer reservierten Notaufnahme in Hinzert und seiner Kriegserfahrungen an der Ostfront war mein Vater der Meinung: Ihr bleibt hier zu Hause, wenn der "Ami" durch den Westwall kommt, dann kommt er auch zum Hunsrück. Noch bevor er schweren Herzens wieder von seiner Familie Abschied nahm, holte er unsere Betten vom Ober- ins Erdgeschoss. Anfang Februar 1945 kam die Westfront immer näher. Der noch zurück gebliebenen Serriger Zivilbevölkerung saß die Angst immer mehr im Nacken, da die Granateinschläge und der Kanonendonner immer stärker wurden. Die privaten Hauskeller waren kein ausreichender Schutz gegen den Beschuss. So suchten immer mehr Serriger in den sicheren Wehrmachtsstollen am Heiligenborn und in den massiven Kellern der Serriger Weingüter, wie Schloss Saarfels und der Gebrüder Stöcker, ihre Zuflucht. In Anbetracht der sich überstürzenden Kriegsereignisse konnten nun auch wir nicht mehr in unserem Zuhause bleiben. Über meinen Onkel Michel fanden auch wir am 20. Februar 1945 eine Aufnahme im Weinkeller von Schloss Saarfels. In der nun folgenden Nacht zum 21. Februar starben im Nachbarhaus meines Elternhauses durch Granateinschlag drei Schwestern im Alter von 25 bis 40 Jahren. Am 23. Februar 1945 haben die amerikanischen Streitkräfte auch das Schloss Saarfels erobert. Die noch anwesenden deutschen Volkssturm-Männer und -Jungen ergaben sich kampflos. Uns Zivilisten führte man mit starker Bewachung in künstlichem Nebel ins Dorf hinunter zur Saar-Fähre. Hier waren amerikanische Pioniere im Schutz des künstlichen Nebels bereits dabei, eine Pontonbrücke für den weiteren Nachschub zu errichten. Auch an der Saar war später im Nebel der Beschuss so stark, dass unsere Bewacher ihren ursprünglichen Plan änderten, uns über die Saar weiter hinter die Front zu bringen. Sie führten uns am späten Nachmittag wieder zurück durchs Dorf zum Weingut Stöcker. Auch der Serriger Pfarrer Bisenius hat sich bei dem Protestanten Rudolf Stöcker (gleichfalls Bürgermeister und später als komissarischer Landrat von Saarburg durch die Militärverwaltung eingesetzt) im Keller sicher gefühlt. Hier wurden nun alle noch lebend auffindbaren Serriger Zivilisten für einige Wochen interniert, bis die Front sich weiter in den Hochwald verlagert hatte. Seit November 1944 war für mich ein Tag wie alle Tage. Das wirkliche Kriegsende für mich und meine Familie war im September 1945 die Heimkehr meines Vaters aus englischer Gefangenschaft in Norddeutschland. Erst am Tag vorher hatten wir von einem Heimkehrer aus Wiltingen erfahren, dass er noch lebte. Josef Wagner, Perl

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