"Wer es nicht packt, wird ausgesondert"

TRIER. Das Geschäft mit der Nachhilfe boomt: Knapp eine Milliarde Euro geben Eltern in Deutschland für die Förderung ihrer Kinder aus. Doch gezielte Hilfen zur richtigen Zeit können nicht nur Wissenslücken füllen, sondern auch Defizite durch Teilleistungsschwächen ausgleichen. Doch die müssen zunächst einmal erkannt werden.

Der Sohn von Margit Müller (Name geändert) musste das Gymnasium wegen schlechter Leistungen, vor allem in Mathematik, verlassen. Ein langer Weg durch verschiedene Instanzen führte schließlich zur Diagnose der Teilleistungsschwäche Dyskalkulie (Rechenschwäche) und einer entsprechenden Therapie. Margit Müller sagt: "In der Schule wurde das nicht erkannt. Da zählt nur, ob jemand gut oder schlecht ist." Ein Vorwurf, den Gisela Müller-Forbrodt, zuständig für den bildungswissenschaftlichen Teil der Lehrerausbildung an der Universität Trier, nachvollziehen kann: "Es sieht doch so aus: 30 Schüler werden gleichmäßig berieselt, wer es nicht packt, wird ausgesondert." Eine Teilschuld trage die praxisferne Lehrerausbildung, besonders für das Lehramt an Gymnasien, in der das Feld Entwicklung des Kindes und Lernschwierigkeiten bislang als Wahlfach im Hintergrund stehe. "Aber ab dem kommenden Wintersemester beginnt die Reform der Ausbildung hin zu mehr Berufsorientierung. Die Zahl der Semesterwochenstunden wird schrittweise von 16 auf 38 erhöht, das Studium in drei Module zerlegt, von denen sich eins allein mit Fragen der individuellen Förderung in einem integrierten System befasst", erläutert die Mitbegründerin des neuen Trierer Zentrums für Lehrerbildung. Sie könne sich vorstellen, Lehrämter an Aufgaben statt an Schultypen zu binden und das dreigliedrige zugunsten eines integrierten Schulsystems abzuschaffen: "Die Förderung könnte dann individueller sein, Versagensängste wären nicht so gravierend, weil man mit einem schlechten Fach nicht gleich die Schule wechseln muss." Noch aber sind es die Ängste und damit der Druck, die Eltern verzweifeln und Kinder versagen lassen. Viele von ihnen finden den Weg in die schulpsychologische Beratungsstelle, wo Ursachen diagnostiziert, Förderkonzepte aufgezeigt und Vorschläge für gezielte Maßnahmen gemacht werden. Schulpsychologin Annette Müller-Bungert sagt: "Man muss unterscheiden zwischen Wissenslücken durch längere Krankheit oder Motivationsmangel und Teilleistungsschwächen wie Wahrnehmungsstörungen, Legasthenie oder Dyskalkulie."Letztere seien, neben Begabungsdefiziten oder familiären Problemen, dann als Ursache zu vermuten, wenn bereits im Grundschulalter Schwierigkeiten auftauchten, die Förderung verlangten. Dann seien Therapien oder im Zweifelsfall ein Wechsel zur Sonderschule gefragt. Ältere Schüler sollten die Schulform wechseln, wenn sie über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten trotz Förderung in mehreren Fächern versagten. Bei Wissenslücken rät Annette Müller-Bungert zur Nachhilfe durch externe Kräfte, "um das Thema Schule und Frust aus dem familiären Alltag zu nehmen und um zu vermeiden, dass sich die Resignation auf andere Fächer auswirkt." Gleichzeitig soll man jedoch überlegen, ob das Kind nicht lediglich konkurrierende Aktivitäten überfrachtet und in seiner Konzentration gehindert werde. "Dann wäre eine Reduzierung des Angebots sinnvoller, als die Einführung der neuen Aktivität Nachhilfe." Lernsoftware sei keine Lösung, da Kinder ohne Beistand und Kontrolle der Eltern selten trainierten. "Besser ist individuelle Förderung durch professionelle Kräfte. An erster Stelle sollte die Vermittlung von Lern- und Arbeitstechniken stehen, denn darin wurzeln mehr Schwierigkeiten als in Wissenslücken. Generell," so rät Annette Müller-Bungert, "darf Nachhilfe nicht dazu führen, dass man sich zurücklehnt und darauf verlässt. Die eigene Verantwortung fürs Lernen muss erhalten bleiben." Mehr zum Thema unter www.schulpsychologie.de Seite für Eltern, Stichwort Nachhilfe.

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