Von Ungerechtigkeiten und den kleinen Dingen des Lebens

Tuuut, tuuut, tuuut - nach dem Deutschland-Spiel am Sonntagabend düsten hupende Autos an mir vorbei, deren Fahrer den ersten EM-Sieg unserer Mannschaft seit zwölf Jahren feierten - gegen Polen, ein Land, in dem ich noch nie war.

Kein Dutzend Jahre, sondern gerade mal eins und ein paar Monate ist es her, da habe ich im Krankenhaus Bekanntschaft mit einer Polin geschlossen. Sie hatte das Zimmer, das wir uns für die kommenden fünf Tage teilen sollten, zuerst bezogen und sich das Bett am Balkon gesichert. Wegen der Aussicht vermutlich. Ich hatte das Bett neben dem Schrank, ohne Aussicht und einen gefühlten Kilometer vom Fernseher weg. Ungerecht, dachte ich. Schließlich war ich die Kurzsichtige von uns beiden. Dass ich Kontaktlinsen trug, hätte sie auf drei Meter Entfernung eigentlich nicht sehen können. Aber daran dachte ich an diesem Morgen nicht. Ich erinnere mich noch daran, dass ich schrecklich angespannt war wegen eines Routine-Eingriffs. Jedes Wort war mir zu viel, und meine polnische Neubekanntschaft, die meine Mutter hätte sein können, plauderte munter drauflos. Sie plauderte und plauderte und plauderte, als gebe es kein Morgen. Und ich gestand mir ein, doch ein Morgenmuffel zu sein. Am späten Nachmittag ließ die Benommenheit der Narkose nach. Ich bekam schlecht Luft, hatte einen trockenen Hals, und meine Zimmernachbarin redete schon wieder. Mit ihrem Besuch, mit ihrem Telefon, mit sich selbst. Noch etwas später, es war mittlerweile Abend geworden, sprach sie mit mir. Warum ich hier sei, wollte sie wissen. Ich erzählte es ihr. Ungefragt deutete sie auf das riesige weiße Pflaster an ihrem Hals und sagte: "Schilddrüsenkrebs…." Ich schluckte und kämpfte mit den aufsteigenden Tränen. Ungerecht, dachte ich. Seitdem freue ich mich umso mehr über die kleinen Dinge des Lebens, wie etwa über die Autos, die hupend an mir vorbeizogen, weil Deutschland nach zwölf Jahren wieder ein EM-Spiel gewonnen hat…

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