Willkommen in Doi-Tse-Lan

Neulich, vor dem Karl-Marx-Haus in Trier. Ein Trupp China-Männer versammelt sich auf dem Trottoir. Reisende aus dem Reich der Mitte, auf Pilgerfahrt an die Geburtsstätte ihres Idols. Glänzende Gesichter, angeregtes Geschnatter.

Sie parlieren, so scheint's, über die Theorie des Klassenkampfs und die Expropriation der Expropriateure. Plötzlich stutzen die Marx-Brothers. Eine Szene am Straßenrand fesselt sie. Drei Eingeborene lümmeln dort, nahe einer Bushaltestelle, mitsamt eines Schäbos, na ja, eines Mischlingshunds, irgendetwas zwischen Schäferhund und Boxer. Lumpenproletariat, hätte der Urvater des Kommunismus wohl geurteilt, ohne Bedeutung für die Revolution. Prekariat heißt es politisch korrekt im Neusprech unserer Tage. Gebannt beäugen die China-Männer das Schauspiel. Sie zücken ihre Digitalkameras, drücken ab, starren. Die Eingeborenen starren zurück. Zwei Welten prallen aufeinander. Die Entdeckungsreisenden tuscheln: Seltsam, dieses Doi-Tse-Lan und seine Bewohner, diese Langnasen! Sie lächeln nie, trinken das eklige Drüsensekret von Kühen und schnäuzen in aller Öffentlichkeit ihre Nasen. Tsss, tsss - und vor ihrem größten Philosophen zeigen sie null Respekt! Sie starren weiter. Den Eingeborenen wird's zu bunt. "Watt gitt et?", zischt ihr Häuptling und streichelt Schäbo zärtlich übers Fell. "De Wauwau krischt'er nit, de kümmt nit in de Kochpott - ihr Pekinesen!" Ende der Vorstellung. Genug der Dialektik. Die China-Männer ziehen ab, leise murmelnd. Klingt wie: "Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt." Oder so ähnlich. Peter Reinhart In der Kolumne "Guten Morgen" beschreiben wechselnde Autoren ihre Gedanken zum Tag.

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