Pflaster für lebenslange Wunden

Weil sie sich für die Aufklärungsarbeit von Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus starkgemacht haben, erhalten Hans Lieser und Valentin Hennig am 25. September in Mainz das Bundesverdienstkreuz am Bande. Hans Lieser ist gehörlos und Betroffener. Im Alter von 16 Jahren wurde er gegen seinen Willen zeugungsunfähig gemacht.

 Der gehörlose Hans Lieser (rechts) und sein Schwager Valentin Hennig (links) aus Kordel erhalten das Bundesverdienstkreuz am Bande für ihre Aufklärungsarbeit über Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus. TV-Foto: Katja Bernardy

Der gehörlose Hans Lieser (rechts) und sein Schwager Valentin Hennig (links) aus Kordel erhalten das Bundesverdienstkreuz am Bande für ihre Aufklärungsarbeit über Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus. TV-Foto: Katja Bernardy

Kordel. Hans Lieser ist 84 Jahre alt. Er ist seit seiner Geburt gehörlos. Wenn man langsam spricht, dann kann er die Worte von den Lippen ablesen, und er kann erzählen. Von seinen drei Geschwistern und vom Kordeler Sportverein, in dem er seit fast 70 Jahren Mitglied ist.

Der alte Mann strahlt, wenn er sich erinnert, dass er so gerne Fußball mit den anderen Jungen gespielt hat. Doch sein Strahlen weicht einer traurigen Miene, wenn seine Erinnerungen vom Fußballplatz zu jenem Sonntag im Jahr 1941 wandern, über den er jahrelang aus Scham geschwiegen hatte: "Komm mal mit, und bleib ganz ruhig, wir gehen mal da hin ...", habe ein Lehrer damals zu ihm gesagt. An diese Worte kann sich Hans Lieser noch genau erinnern. Gegen seinen Willen und ohne ein Wort der Erklärung wurde er ins Krankenhaus in Saarburg gebracht.

Weil er gehörlos war, wurde er im Auftrag der Nationalsozialisten zwangssterilisiert. Grundlage des grauenvollen Eingriffs war das aus dem Jahr 1933 stammende "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Es war wohl eine Ausnahme, dass Hans Lieser in Saarburg zwangssterilisiert wurde.

"Die meisten der 2200 Betroffenen aus der Region Trier wurden im evangelischen Elisabeth-Krankenhaus in Trier unfruchtbar gemacht. Deutschlandweit fielen in den Jahren 1934 bis 1945 rund 400 000 Menschen diesem Gesetz zum Opfer", sagt Valentin Hennig. Der 83-Jährige ist der Schwager und Freund von Hans Lieser. Der Ex-Polizist kämpfte mehr als 30 Jahre lang für die finanzielle Entschädigung Zwangssterilisierter und hat ein Buch über das Thema geschrieben. "Es gibt in Deutschland keine Behörde, mit der ich nicht korrespondiert habe", sagt Hennig.

Seine Motivation, unermüdlich zu kämpfen, gaben ihm die Schicksale von rund 30 Betroffenen, die er recherchiert hatte. "Was ich da erlebt habe, kann man nicht beschreiben." In Worte fassen kann er auch nicht den Moment, als die Mainzer Staatskanzlei vergangene Woche anrief und ihm mitteilte, dass den beiden das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen werde. Der Trierer Historiker Thomas Schnitzler hatte im Mai vergangenen Jahres den Antrag gestellt. "Der Tag in Mainz wird ein Freudentag", sagen die Senioren. Aber erst einmal wird Hans Lieser ein Wochenende mit seinem Bruder verbringen. Er ist ebenfalls gehörlos, und weil er sieben Jahre jünger ist, blieb er von der Zwangssterilisation verschont. "Mein Bruder hat drei Kinder, und sie hören", sagt der alte Mann mit zitternden Händen und Tränen in den Augen.

Extra Dokumentation: Erst seit dem Jahr 1980 werden Menschen, die zwangsweise unfruchtbar gemacht wurden, als Opfer des Naziregimes anerkannt und erhalten eine finanzielle Entschädigung. Wesentlich zur weiteren Aufklärungsarbeit hat der Dokumentarfilm "Komm doch mit, bitte sei ganz ruhig, wir gehen mal da hin ..." von Harry Günzel und Bettina Leuchtenberg von der Trierer Medienagentur "Schnittstelle" beigetragen. Am Beispiel von Hans Lieser wird das Schicksal von Tausenden von Menschen dokumentiert. Der Film, den der Historiker Thomas Schnitzler wissenschaftlich begleitete, ist im "Trier-Kino" im Stadtmuseum Simeonstift zu sehen. Auch wurde er bereits in Berlin und Hamburg gezeigt. (kat)

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