Die Deutschen tragen ihr Geld in die Läden - Billig-Öl und Kaufrausch treiben die Wirtschaft an

Berlin · Rekordbeschäftigung, Rückenwind für Exporteure und dazu noch Bürger, die mit vollen Händen ihr Lohnplus in die Läden tragen. Deutschland geht es blendend. Warum aber traut Wirtschaftsminister Gabriel dem Braten nicht so richtig?

Für Sigmar Gabriel sind es entspannte 60 Minuten. Während viele seiner europäischen Amtskollegen mit mauen Wachstumsraten und hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen haben, muss sich der deutsche Wirtschaftsminister fast schon anstrengen, um bei der Präsentation des Jahreswirtschaftsberichts irgendetwas Negatives zu finden.
Deutschland steht im Europa-Vergleich prächtig da. Im laufenden Jahr erwartet die Regierung wie 2014 ein robustes Konjunkturplus von 1,5 Prozent. Der SPD-Chef aber mahnt seine Landsleute, auf dem Teppich zu bleiben und nicht von oben herab auf den Rest Europas zu schauen. Millionen Jobs seien nur dann dauerhaft sicher, "wenn es den Menschen um uns herum gut geht".

Warum ist die deutsche Wirtschaft so stark ?
Im Gegensatz zu angeschlagenen Nachbarn wie Frankreich und Italien haben Politik und Wirtschaft mit den Agenda-2010-Reformen das Land schon vor Jahren fit gemacht. Der jüngste Ölpreis-Verfall wirkt wie ein kostenloses Konjunkturprogramm, dazu ist der schwache Euro im Vergleich zum US-Dollar für die Exportindustrie ein Segen, weil sie Produkte "Made in Germany" günstiger auf den Weltmärkten anbieten kann.

Wie hoch ist der Anteil der Verbraucher an der guten Lage?
Die Bürger geben ihr Geld mit vollen Händen aus, das Konsumklima war im Januar so gut wie seit 13 Jahren nicht mehr. Weil die Banken wegen der Geldschwemme der Notenbanken nur noch Mini-Zinsen auf Tages- und Festgeld bieten, schrumpft die einst hohe Sparquote rapide. Zur Spendierfreude tragen niedrige Ausgaben für Öl und Benzin, satte Lohnzuwächse und das Wissen um den sicheren eigenen Arbeitsplatz bei. Im Jahresschnitt soll es fast 43 Millionen Erwerbstätige geben - wieder ein Rekord. So hat die Binnenkonjunktur den Export längst als Stütze des Aufschwungs abgelöst. Gabriel glaubt, dass der im Januar eingeführte Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde und das Rentenpaket die Kaufkraft weiter stärken.

Die Konsumwirtschaft freut sich, aber droht ein böses Erwachen?
Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden. GfK-Konsumforscher Rolf Bürkl sieht den Trend, das Sparbuch zu plündern, mit zwiespältigen Gefühlen: "Es ist zu befürchten, dass wir die Rechnung für die derzeit extrem geringe Sparneigung in Zukunft serviert bekommen, etwa in Form von Altersarmut." Kaum noch jemand schließt eine Lebensversicherung ab, weil die Zinsversprechen minimal sind. An die boomenden Aktienmärkte trauen sich viele Privatanleger nicht heran, weil sie während der Euro-Staatsschuldenkrise böse Erfahrungen machten. So entgehen ihnen gute Renditen und der Aufbau von Vermögen fürs Alter.

Naher Osten, Ukraine, Griechenland: Es gibt viel Unsicherheit. Kann sich Deutschland dauerhaft abkoppeln?
Der Ukraine-Konflikt trifft deutsche Russland-Exporteure hart, für die Gesamtwirtschaft sind die Sanktionsfolgen aber überschaubar. Die Drohgebärden des neuen griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, der eine Lockerung der EU-Sparvorgaben erreichen will, haben Märkte und EU-Partner bisher nicht sonderlich beeindruckt. Der gut ausgestattete Euro-Rettungsschirm ESM und das Versprechen von EZB-Chef Mario Draghi, den Euro um jeden Preis zu verteidigen, sind hohe Brandmauern, um ein Wiederaufflammen der Krise zu verhindern. Zu sicher sollte sich aber niemand sein: 60 Prozent der deutschen Exporte gehen in die EU, 40 Prozent in den Euro-Raum. Kommen die Nachbarn nicht aus der Krise, spürt auch Deutschland das irgendwann.

Der Bund freut sich über die "schwarze Null" im Haushalt und sprudelnde Steuereinnahmen. Wird es nicht mal Zeit für Steuersenkungen?
Im Jahreswirtschaftsbericht wird versprochen, noch vor der nächsten Bundestagswahl 2017 das Problem anzugehen, dass der Fiskus heimlich an Lohnerhöhungen mitkassiert ("kalte Progression"). Nur: Wegen der niedrigen Inflation tritt das Problem gar nicht mehr auf. Mit einer echten Steuerreform und Entlastungen auf breiter Front ist daher absehbar nicht zu rechnen. Sollten sich dank der guten Konjunktur neue finanzielle Spielräume ergeben, will die Regierung lieber mehr investieren.Stichwort

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der wichtigste Gradmesser für die Leistung einer Volkswirtschaft.
Es enthält den Wert aller erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb der Landesgrenzen produziert wurden.
In dieser Jahreswirtschaftsleistung enthalten sind alle Wirtschaftsbereiche - vom kleinen Handwerksbetrieb bis hin zu Handel, Banken, Industrie, Landwirtschaft und den Leistungen des Staates.
Größte Komponente ist der private Konsum, der in Deutschland laut Statistischem Bundesamt vor vier Jahren 57 Prozent des BIP ausmachte. Weitere wichtige Bestandteile sind die Investitionen von Unternehmen in Maschinen und Bauten, der Außenbeitrag als Differenz von Exporten und Importen und die Ausgaben des Staates (rund 20 Prozent).
Als größte europäische Volkswirtschaft erreichte nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Bundesrepublik Deutschland 2011 ein Bruttoinlandsprodukt von knapp 2,6 Billionen Euro. dpa

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