Empörung über Erfolg

BERLIN. Nach dem politischen Ärger der letzten Tage und Wochen konnte die Bundesregierung gestern zur Abwechslung einen Erfolg verbuchen. In zähen Verhandlungen haben die EU-Wirtschafts- und Finanzminister die Zügel zur Einhaltung des EU-Stabilitätspakts gelockert und damit einen Herzenswunsch der rot-grünen Koalition erfüllt.

Kanzler Gerhard Schröder sprach von einem "guten Ergebnis", Finanzminister Hans Eichel (beide SPD) schwärmte über die "gute politische Einigung", und SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler lobte den Kompromiss als einen "Sieg wirtschaftspolitischer Vernunft". Der Streit über den Stabilitätspakt begann 2002, als Brüssel die Bundesregierung wegen ausufernder Schuldenmacherei verwarnt hatte. Doch auch in den Folgejahren verletzte Berlin regelmäßig die vertraglich festgelegte Neuverschuldung von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dabei hatte sich Deutschland bei Vertragsschluss im Jahr 1997 für eben jenen Grenzwert stark gemacht. Formal bleibt es auch künftig dabei. Allerdings könne man nun "flexibel" mit dem Drei-Prozent-Kriterium umgehen, hieß es gestern in Regierungskreisen. Im Klartext: Wer die Verschuldungshürde reißt, muss nicht mehr zwangsläufig mit EU-Sanktionen rechnen. Als mildernde Umstände gelten zum Beispiel Reformanstrengungen bei den Sozialsystemen und die "Kosten zur Herstellung der europäischen Einheit". Nach Lesart der Bundesregierung fallen darunter in erster Linie die Transferlasten für die deutsche Einheit. Das sind immerhin rund 80 Milliarden Euro pro Jahr oder vier Prozent der deutschen Wirtschaftskraft. Defizit bis zu sieben Prozent möglich

Im Extremfall könnte die Regierung also ein Defizit von sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausweisen, ohne Strafzahlungen befürchten zu müssen. Regierungskreise verwahrten sich allerdings gegen solche Rechnungen. Der Eindruck, hier würden Schleusen für mehr Schulden geöffnet, sei "völlig falsch". Eichel betonte, es gehe nicht um eine Lockerung des Pakts. "Es geht darum, ihn ökonomisch vernünftig anzuwenden." Die Opposition ist da gänzlich anderer Auffassung. "Wer den Stabilitätspakt aufweicht und damit faktisch aufgibt, öffnet einer Verschuldungsspirale ohne Ende in Europa Tür und Tor", meinte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Matthias Wissmann (CDU). Die Regierung sei "von allen guten Geistern verlassen", zürnte auch FDP-Vize Rainer Brüderle. Den Deutschen sei versprochen worden, dass der Euro genau so hart sein würde wie die D-Mark. "Rot-Grün fühlt sich an dieses Versprechen nicht mehr gebunden", konstatierte Brüderle. Von der Fachwelt bekommen Union und Liberale Rückendeckung. "Mit den getroffenen Vereinbarungen kann sich praktisch jedes Land eine Defizitquote à la Card bestellen", sagte der Mainzer Finanzwissenschaftler Rolf Peffekoven unserer Zeitung. Wenn Deutschland den Nachholbedarf der DDR geltend mache, dann könnten die osteuropäischen EU-Beitrittsländer noch ganz andere Umstände ins Feld führen.

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