Hinschauen und gezielt handeln

"Wie erkenne ich Vernachlässigung oder Misshandlung?" Gerichtsmedizinerin Dr. Bianca Navarro klärte darüber in Wittlich 160 Interessierte vom Arzt bis zur Kindertagesstätten-Mitarbeiterin auf. Die berufsübergreifende Fortbildung ist ein Baustein der Initiative der Kreisverwaltung, die ein Frühwarnsystem zum Schutz von Kindern aufbaut.

Bernkastel-Wittlich. Ein sechs Wochen alter Säugling hat schwere, verdächtige Verletzungen. Der Kinderarzt überweist ihn sofort in die Wittlicher Klinik, die er über seinen Misshandlungs-Verdacht informiert. Das Krankenhaus alarmiert Polizei und Behörde. Letzteres übernimmt das Sorgerecht für den Patienten, bis der Fall eindeutig geklärt ist. So schnell und effektiv machten sich Anfang Juli im Fall des misshandelten Babys "Fremde" zu Anwälten eines Kindes, ersparten ihm womöglich weitere Qual (der TV berichtete).

Ein gutes Beispiel dafür, wie im Ernstfall von Außenstehenden zu handeln ist, um die zu schützen, die selbst hilflos sind. Deshalb baut der Landkreis Bernkastel-Wittlich seit vergangenem Jahr ein "soziales Frühwarnsystem auf". Damit sollen Risiken, die das Kindswohl gefährden können, früh erkannt werden. Diese Vorsorge kann nur greifen, wenn Risiko-Familien als solche überhaupt "offiziell" werden. Doch wie erfährt etwa der Fachbereich Jugend und Familie bei der Kreisverwaltung (früher "Jugendamt") von der Schwangeren, deren Lebensumstände nahe legen, ihr nach der Geburt zu helfen? An wen wendet sich die Hebamme, die vermutet, dass das leibliche Wohl eines Babys gefährdet ist? Was macht der Kinderarzt, dessen kleiner Patient auffällige Verletzungen hatte, dann aber nie mehr zur Untersuchung gekommen ist? Wie reagiert die Erzieherin, die sich Sorgen macht, weil einer ihrer Kita-Gäste einen verwahrlosten Eindruck macht? "Da gibt es viele Unsicherheiten", sagt Peter Caspers vom Fachbereich Jugend und Familie, der mit seinem Kollegen Willi Schüller am Aufbau eines effektiven Netzwerks arbeitet.

"Als erstes ist wichtig, dass sich alle möglichen Beteiligten, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, kennenlernen, damit nicht nur punktuell gearbeitet wird. Und wer sich kennt, kann besser kooperieren", erklärt Willi Schüller. Ein runder Tisch sorgt schon jetzt für den Austausch von 40 Menschen von der Hebamme über die Frauenärztin bis zur Vertreterin des Kinderschutzbundes, um systematisch abzusprechen, was sinnvolles Vorgehen im Verdachtsfall ist.

Die 160 Interessierten am Vortrag der Gerichtsmedizinerin Bianca Navarro belegen, wie ernst die Berufsgruppen das Thema nehmen. "Das ging an die Nieren. Und nach dem Vortrag gab es gute Ideen für weitere interdisziplinäre Maßnahmen", sagt Peters Caspers. Denn je systematischer ein Austausch aller Beteiligten möglich werde, desto besser könne geholfen werden. Damit das Projekt "Guter Start ins Kinderleben" kontinuierlich und berufsübergreifend funktioniert, stellt der Kreis 2009 eine zusätzliche Fachkraft für den Kinderschutz ein. "Wir fühlen uns von der Politik sehr gut unterstützt", sagen die Kreisverwaltungsmitarbeiter.

Der Fall des Säuglings zeigt, wie wichtig funktionierende Schnittstellen sind. Er kommt jetzt zu Pflegeeltern, bis abgeklärt ist, wer seine Verl etzungen zu verantworten hat. Die Staatsanwaltschaft kann sich aus ermittlungstaktischen Gründen derzeit zum Fall noch nicht äußern.

Meinung

Viele Augen sehen hin

Kindeswohlgefährdungsmeldung heißt der amtliche Begriff. "Ich mache mir Sorgen, weil es dem Kind XY nicht gut zu gehen scheint", könnte die entscheidende Information lauten, die das Amtsdeutsch fassen will. Und lebensnah ist, was die Kreisverwaltung aufbaut. Man glaubt es kaum, dass ein Netzwerk über Berufsgruppen hinweg, die allesamt in Kontakt mit Kindern stehen, nicht selbstverständlich ist. Jeder, der freiwillig mitmacht, signalisiert, dass er Verantwortung übernehmen, sich informieren will, wie im Ernstfall zu reagieren ist. Zu viele Fälle werden bekannt, in denen das Versagen oder völlige Fehlen von Warnsystemen katastrophale Folgen hat. Am Ende steht im schlimmsten Fall ein totes Kind. So weit will es niemand kommen lassen. Die Kreisverwaltung ist auf die Hilfe derer angewiesen, die täglich mit Kindern zu tun haben. Dass die Behörde diese Berufsvertreter an einen Tisch bringt und sehr viele kommen, ist mehr als ein gutes Zeichen. s.suennen@volksfreund.de

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