Ein menschlicher Gott

Drei Mal täglich rufen die Glocken katholischer Kirchen - unabhängig von Gottesdiensten - zum Gebet auf. Es gibt Bräuche, die sich der Form nach über Jahrhunderte erhalten haben, ohne dass man ihren ursprünglichen Sinn noch versteht.

Zu diesen gehört dieses so genannte Angelus-Läuten. Viele Menschen - auch Katholiken - hören es zwar, ohne aber irgend eine Bedeutung damit verbinden zu können. In vielen Religionen, zum Beispiel auch im Islam, ist das regelmäßig wiederholte Gebet etwas Selbstverständliches. Gewöhnlich verbindet sich damit ein Bekenntnis zu den fundamentalen Überzeugungen der jeweiligen Religion (im Islam zur Einzigkeit Gottes). So ist es auch mit dem Angelus-Gebet. Scheinbar ein Gebet zu Maria ("Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft..."), ruft es ununterbrochen den Glauben an die Menschwerdung Gottes ("Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.") ins Bewusstsein. Es geht um den Kern des christlichen Bekenntnisses: Gott selbst ist in Jesus Mensch geworden, er ist einer von uns, er kennt unsere Sorgen und Nöte, er hat sie selbst erlebt, er weiß, was Leiden bedeutet, er hat selbst gelitten, er leidet mit allen Leidenden. Immer wieder im Jahresablauf - vom 25. März bis zum 2. Februar - feiert die katholische Kirche verschiedene Aspekte der Menschwerdung Gottes (häufig hinter Marienfesten verborgen, was es Nicht-Katholiken schwer macht, sie mit zu vollziehen). Die Erinnerung an den Beginn des Lebens Jesu im Leib seiner Mutter und die an sein Sterben und seine Auferstehung liegen wie in diesem Jahr häufig nahe beieinander. Äußerlich durch den Bezug auf Weihnachten neun Monate später bedingt, steht dahinter eine tiefere Bedeutung: Mensch werden, lieben, mit-leiden führt unter den Bedingungen dieser Welt oft selbst zu Leiden und Tod. Wir kennen dafür Beispiele genug. Aber der Glaube an Menschwerdung und Leiden Jesu bietet zwar keine vordergründige Lösung, aber vielleicht eine Erlösung an: In jeder Form von Liebe, in jeder Art von Leid, auch noch in der größten Gottverlassenheit ("Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?") lebt Gott unser Leben mit und leben wir Gottes Leben mit. Der Glaube an diese menschlichen Gott und seine Umsetzung im Alltag könnten, müssten mehr mit-leiden und damit mehr Menschlichkeit und die Verringerung des Leidens bewirken. Wenn das Kreuz in Schulen, Verwaltungsgebäuden, Gerichten usw. die Menschen dazu brächte, im jeweiligen Gegenüber wirklich die Schwester/den Bruder des mitleidenden Gottes zu sehen, bekäme die Diskussion darüber sicher schnell eine andere Dimension. Dr. Karl-Heinz Musseleck, Wittlich

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