So viel Zeit muss sein

Vor der Kasse im Supermarkt eine lange Schlange. Viele Menschen sind gereizt, drängeln und schimpfen. Es geht ihnen nicht zügig genug. So wie mir auch. Ständig schaue ich auf die Uhr, denke an die ganzen Termine, die noch zu erledigen sind.

Warum bloß geht es nicht voran? Es gibt Leute, die haben einfach zu viel Zeit. Und die müssen ausgerechnet jetzt unterwegs sein, grolle ich. Vor mir ist ein älterer Mann mit einem durchdringenden Geruch aus Schweiß, Zigarettenrauch und Urin. Die Haare zerzaust, die Hände zittrig. Seine ganzen Bewegungen sind fahrig. Jetzt ist er an der Reihe. Gott sei Dank, denke ich. Bald geschafft. Er hat keinen Einkaufswagen dabei. Stattdessen räumt er aus einer Einkaufstüte seine Lebensmittel auf das Fließband. Ich ahne schon, was kommt. Damit sich nicht alle Lebensmittel an der Kasse aufstauen, muss er sie in Windeseile wieder einräumen. Die Kassiererin nennt ihm den Geldbetrag, der zu zahlen ist. Jetzt ist der Mann total überfordert. Er will gleichzeitig die Lebensmittel wieder in die Tüte einpacken und seine Geldbörse suchen. Er findet sie nicht. Er wird immer nervöser. Ich stöhne und rolle mit den Augen. Doch die Kassiererin lächelt den Mann nur an. Auch sie ist im Stress. Aber sie lächelt. "Ich packe schon mal für Sie ein. Suchen Sie nur in Ruhe ihr Geld." Endlich fingert der Mann aus seiner Hosentasche einen zerknitterten Geldschein. Die Kassiererin lächelt weiter. Gibt ihm sein Wechselgeld. Dann bin ich an der Reihe. "Sie scheinen ja die Ruhe weg zu haben", sage ich zu der jungen Frau. Sie lächelt wieder. "Aber so viel Zeit muss doch nun wirklich sein", meint sie. Ich schäme mich für meine Ungeduld. Die Frau hat Recht. So viel Zeit muss doch sein. Für ein Lächeln. Für eine kleine Geste der Wertschätzung. Egal wie eilig wir es im Leben haben. Harald Müller-Baußmann, Diakon, Morbach

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