"Wir wollen nicht mehr funktionieren"

Immer mehr Kinder und Jugendliche kommen an ihre Grenzen, haben Leistungsprobleme, zeigen auffälliges Verhalten, verweigern sich und werden krank, sagt Anette Kappes aus Trier. Elf Jahre lang hat sie als Realschullehrerin gearbeitet. Sie behauptet: "Die Zwänge des Schulsystems werden jungen Menschen nicht gerecht."

Trier. "Je mehr ich mich auf die Schüler mit Achtung und Offenheit einließ, desto weniger passten die vielen äußerem Vorgaben und Zwänge des Schulsystems", sagt Anette Kappes aus Trier.

Elf Jahre lang unterrichtete sie an einer Realschule und machte dort prägende Erfahrungen: Der herrschende Leistungsgedanke des Schulsystems müsse hinterfragt werden, denn er werde den Bedürfnissen der Kinder kaum gerecht und blockiere jegliche Kreativität, kritisiert die Ex-Lehrerin.

Jedes Grenzverhalten ist ein Appell

 Anette Kappes hat elf Jahre lang als Lehrerin gearbeitet. Sie behauptet, dass das Schulsystem den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht wird und sie krank macht. TV-Foto: Katja Bernardy

Anette Kappes hat elf Jahre lang als Lehrerin gearbeitet. Sie behauptet, dass das Schulsystem den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht wird und sie krank macht. TV-Foto: Katja Bernardy



Missgunst, Konkurrenzdenken und Schuldgefühle würden in Klassen geschürt. Und für Eigenes der Schüler sei zu wenig Platz, da etwa der Lehrplan genau vorgebe, was andere wissen sollten.

Viele Schüler reagierten darauf mit auffälligem Verhalten und Krankheiten. "Diese Schüler bringen eine Botschaft rüber: Wir können und wollen nicht mehr funktionieren", meint die 44-Jährige. "Sie kapieren, dass das System nicht funktioniert." Jedes Grenzverhalten sei ein Appell. "Das bedeutet aber nicht, dass jeder in einer Gemeinschaft machen kann, was er will", erklärt sie. Grenzen zu achten sei ebenso wichtig wie Grenzen zu setzen. "Wenn ein Schüler einen anderen ärgerte, musste der ein paar Seiten schreiben." Die Aufgabenstellung: Wieso hast du das gemacht? Was ist in dir vorgegangen? Was ist bei dem anderen passiert? "In dem Moment konnte er erkennen, dass er durch mich, die Erwachsene, die Verantwortung übernimmt, Hilfe bekommt, und der Schüler lernt davon fürs Leben." Das sei entscheidend. Auch den Unterrichtsstoff nimmt Kappes auf den Prüfstand: "Oft wird Stoff reingepfiffen, der nichts mit den Kindern zu tun hat."

Es müsse Begegnung mit der Lebenswelt der Schüler stattfinden. Kinder lernten Stoff, mit dem sie sich identifizieren könnten, viel besser, findet sie. Dass Kinder ernst genommen werden und ihre Stärken gesehen werden, ist aus Kappes' Sicht die Basis für gutes Lernen. "Und wenn man den Schülern vertraut, entwickeln sie sich gut."

Nicht die Kinder seien das Problem, sondern Eltern und Lehrer müssten genauer hinschauen. Eltern rät sie, vor allem den Druck aus dem Thema "Schule" herauszulassen. "Wenn Eltern die Angstbrille ,Schulerfolg' für einen Augenblick ablegen, dann wird der Blick wieder frei für das Naheliegende und Einfache", sagt Anette Kappes. Sie ist als Lehrerin an die Grenzen des Systems gestoßen und hat einen neuen Weg eingeschlagen: Inzwischen ist sie in der Lehrerausbildung an der Universität Trier tätig und berät Eltern und Schüler.

Weitere Informationen zu Anette Kappes finden Sie unter www.ur-sprung.de

Im nächsten Teil der Serie betrachtet der TV das Thema "Lehrergesundheit".

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