Brave Basis

Die Grünen sind bekannt für ihre Streitlust. Diesem Ruf machten sie auch auf ihrem Sonderkongress in Cottbus alle Ehre. Doch am Ende blieb der Basis praktisch keine andere Wahl, als die "Agenda 2010" mit ihren klaren sozialpolitischen Zumutungen und vagen wirtschaftlichen Hoffnungen abzusegnen. Der große Koalitionspartner hatte es schließlich Anfang Juni vorgemacht. Freilich, im Gegensatz zum SPD-Vorsitzenden Gerhard Schröder musste kein Spitzen-Grüner mit Rücktritt drohen. Aber der politische Druck war trotzdem gewaltig. Denn die Botschaft der Agenda-Befürworter gipfelte in Cottbus stets in dem subtilen Hinweis, wenn wir nicht das Land umkrempeln, dann tun es Merkel, Merz und Stoiber, und dann wird alles viel, viel schlimmer - im Angesicht eines drohenden Machtverlusts hat die grüne Basis eben noch immer eingelenkt. Dass die Führungsleute zu diesem Mittel greifen mussten, mag auf den ersten Blick verwundern. Begreifen sich die Grünen in der Koalition doch stets als Reform-Motor. Gelegentlich wird allerdings vergessen, dass sich die Partei bei ihrer Gründung vor mehr als zwei Jahrzehnten neben Ökologie, Gewaltfreiheit und Basisdemokratie auch die soziale Gerechtigkeit auf die Fahne geschrieben hatte. Und die wird an der Basis nach wie vor zuallererst als Verteilungsgerechtigkeit statt als Chancengerechtigkeit begriffen. Schmerzliche Strukturreformen in den Sozialsystemen sind wie bei den Genossen eher unpopulär. Das Ventil dafür suchte sich der Parteitag im eisernen Beharren auf der Vermögenssteuer. Der Agenda selbst tut das freilich keinen Abbruch. Überhaupt hat der kleine Koalitionspartner der SPD eine Menge voraus. Dass der Staat über seine Verhältnisse lebt, wurde in der grünen Bundestagsfraktion zuerst thematisiert. Sie präsentierte Konzepte zum Umbau der Sozialversicherung samt einer Senkung der Lohnnebenkosten, als in der Kanzler-Partei noch die "ruhige Hand" regierte und Reformen eine Angelegenheit für den Sankt-Nimmerleins-Tag waren. Insofern wirkt das deutliche "Ja" der Grünen zur Schröder-Agenda allemal glaubwürdiger als die große Zustimmung vor zwei Wochen bei den Genossen. Das frühzeitige Umdenken wird nicht zuletzt bei den Wählerumfragen belohnt. Während die Grünen seit der Bundestagswahl deutliche Sympathie-Zuwächse verbuchen, ist die SPD dramatisch abgestürzt. Damit offenbart sich allerdings auch das Dilemma der Fischer-Truppe. Sie ist zwar gut aufgestellt, um die politischen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Aber ohne einen potenten Koalitionspartner ließe sich nur in der Opposition davon profitieren. In Nordrhein-Westfalen zeigt sich gegenwärtig, dass die Ökos fast schon bis zur Selbstverleugnung an die Genossen gekettet sind. Falls Ministerpräsident Peer Steinbrück den Koalitionsbruch durchdrückt, wären wohl auch die rot-grünen Tage in Berlin gezählt. Das gilt übrigens auch dann, wenn die "Agenda 2010" nicht in absehbarer Zeit die gewünschte Wirkung zur wirtschaftlichen Gesundung entfaltet. Nicht umsonst hat Joschka Fischer bei seinem Auftritt vor den Delegierten das Horror-Bild von fünf Millionen Arbeitslosen an die Wand gemalt. Käme es im nächsten Winter tatsächlich dazu, könnte der Ruf nach einer Großen Koalition lauter werden. red.nachrichten@volksfreund.de

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