Die Kunst des Müßiggangs

Ein hübsches Bankkonto, eine gute Köchin und eine tadellose Verdauung - mehr braucht es nicht, um glücklich zu sein, behauptet der Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Einer von unzähligen Versuchen, jenes Mysterium zu deuten, dem der Mensch hinterher jagt, seit er aus den Höhlen kroch: Sehnsucht nach Glück.

Die blubbert allgegenwärtig im Wunschpunsch des Homo sapiens - als Traum, als Ziel, als Hoffnung. Seit Urzeiten arbeiten sich Großgeister an der Anleitung zum Glücklichsein ab. Den Stein des Weisen hat noch keiner gefunden. Was ist Glück? Ein Sechser im Lotto? Reichtum? Ruhm? Mediziner sagen: Ein neurobiologisches Phänomen, ausgelöst von Botenstoffen, die dem Hirn - beim Sex, beim Sport, beim Schokolade-Essen - den Befehl übermitteln: Sei glücklich! Oder ist Glück schlicht das Gegenteil von Unglück? Am Strand zu liegen - und nicht von einer Killerwelle verschlungen zu werden? Der Dalai Lama lehrt, Glück sei die Triebkraft des Lebens, und landet prompt in den Bestseller-Listen. Dort liegen Bataillone von dauer-grienenden Zeitgeist-Gurus in Stellung und feuern Salven der Erkenntnis ab. Die Glücksformel. Glück ist kein Zufall. Kreuzzug ins Glück. Das Bumerang-Prinzip - mehr Zeit fürs Glück. Zurück zum Glück. Das Glück der kleinen Dinge. Simplify your life - einfacher und glücklicher leben. Glücklich sein, auch wenn das Leben hart ist. Hart ist es für die, die nichts haben. Neid der Besitzlosen? Die Habenichtse trösten sich: Ein reicher Mann ist oft nur ein armer Mann mit viel Geld. Ach ja!? Glücklich die Besitzenden, ruft Euripides schon vor zweieinhalb Jahrtausenden. Den "wissenschaftlichen Beweis" liefert, ganz aktuell, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung: Wer Geld hat, ist zufriedener. Als reich gilt hierzulande, wer mindestens eine Million Euro auf der hohen Kante hat. In Deutschland leben 756 000 Millionäre, jeder 109. Einwohner ist "reich". Nicht zu vergessen die Superreichen, die 84 Milliardäre. Ein reiches Land. Ein glückliches Land? Nun ja, die Statistik. Ein Millionär und ein armer Kerl besitzen im Schnitt je eine halbe Million... Wachstum und Massenwohlstand hängen eng zusammen: Wenn die Flut steigt, so John F. Kennedy, steigen mit ihr alle Boote auf dem Wasser. Morsche Kähne und Seelenverkäufer ebenso wie noble Jachten. Viele Sozialhilfeempfänger genießen - Hartz hin, Hartz her - einen höheren Lebensstandard als Facharbeiter vor vier Jahrzehnten. Dennoch ist das Geschrei nach "Gleichheit" groß. Jedem das seine, fordert die Gerechtigkeit, jedem dasselbe, fordert der Neid. Was ist Luxus? Die Konsum- und Marktwirtschaft beruht auf der Idee, dass man Glück kaufen kann, wie man alles kaufen kann, meint der Psychoanalytiker Erich Fromm. Wenn man kein Geld bezahlen muss für etwas, kann es auch nicht glücklich machen. Dass Glück etwas sei, was nur aus der eigenen Anstrengung, aus dem Innern komme und überhaupt kein Geld koste, dass Glück das "Billigste" sei, was es auf der Welt gibt - das sei den Menschen noch nicht aufgegangen. Die Konsumgesellschaft weckt immer neue Bedürfnisse - kaufen, kaufen, kaufen. Was gestern Spielzeug der Schönen und Reichen war, ist heute Allgemeingut. Mobiltelefone zum Beispiel. Erst exklusives Statussymbol, nun Massenware. Wenn fast jeder fast alles kaufen kann, ändert sich das Unterscheidungsmerkmal: Nicht Haben macht reich, sondern Nicht-Haben. Aufs Fernsehen verzichten, erfordert Anstrengung. Oder: kein Auto zu fahren, keinen Traumurlaub zu buchen. Wer sich etwas gönnen will, lässt die ewige Hatz hinter sich - und statt dessen die Seele baumeln, gibt sich dem süßen Nichtstun hin, übt sich in der Kunst des Müßiggangs. Mit Blick auf die Mentalität des Morgenlands schreibt Hermann Hesse vor hundert Jahren: "Diese Leute haben Zeit! Massen von Zeit! Sie sind Millionäre an Zeit, sie schöpfen wie aus einem bodenlosen Brunnen, wobei es auf den Verlust einer Stunde und eines Tages und einer Woche nicht groß ankommt." Göttlicher Müßiggang, purer Luxus: "Bei uns, im armen Abendland, haben wir die Zeit in kleine und kleinste Teile zerrissen, deren jeder noch den Wert einer Münze hat." Also: Carpe diem. Nutze den Tag. Das heißt nicht: faulenzen. Handeln ist das Prinzip des Seins, unbestritten. Aber: Es gilt, den Augenblick zu achten, Glücksmomente aufzuspüren und zu genießen. Die wahren Lebenskünstler sind bereits glücklich, wenn sie nicht unglücklich sind - und über "freie Zeit" verfügen. Ohne hübsches Bankkonto, ohne gute Köchin, vielleicht sogar ohne tadellose Verdauung. p.reinhart@volksfreund.de

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