Mit Verfallsdatum

Die gestern verabschiedete Gesundheitsreform markiert den Abschied von einer lang gehegten politischen Illusion: Dass große Koalitionen eher in der Lage seien, elementare gesellschaftliche Entwicklungen in den Griff zu bekommen.

Statt einer perspektivischen, langfristig angelegten, an die Wurzeln der Probleme gehenden Lösung bietet die Gesundheitsreform ein aus der Fülle unterschiedlicher, oft widersprüchlicher Interessen zusammengeschustertes Konglomerat. Das Verfallsdatum könnte man gleich mit aufdrucken: Es ist der Tag nach der Bundestagswahl 2009. Und schon bis dahin werden den Bürgern und den Versicherten die handwerklichen Fehler um die Ohren fliegen, die der Hast und der heißen Nadel geschuldet sind, mit der das Gesetz durchgepeitscht worden ist. Fast unglaublich ist der Realitätsverlust, den die Redner der großen Koalition gestern in der Debatte demonstrierten. Es kann ihnen doch nicht entgangen sein, dass die weit überwiegende Mehrheit der Experten - und zwar aus allen Interessengruppen - ihrem Reformwerk miserable Noten gegeben hat. Und sie müssen doch gesehen haben, dass ausgerechnet ihren eigenen Gesundheits-Fachleuten - sofern sie nicht durch Amt und Ambitionen zu unverbrüchlicher Solidarität verurteilt waren - die Skepsis förmlich im Gesicht stand. Während die Koalitionäre noch die Vorzüge des Gesetzes für den "kleinen Mann" priesen, lief übrigens auf "Phoenix" unter dem Live-Bild aus dem Bundestag ein Textband mit der Ankündigung von Finanzminister Steinbrück, die Steuern aufgrund der Gesundheitskosten deutlich zu erhöhen - ab 2010, versteht sich. Das Skurrile ist, dass die Reformbefürworter durchaus verstanden haben, wo der Kern des Problems liegt: Zu wenig Markt und Wettbewerb, betonierte Interessengruppen, zu viel Bürokratie. Doch Markt gibt es im Gesundheitswesen entweder ganz oder gar nicht. Er funktioniert nur mit der Entscheidungsfreiheit, aber auch der Eigenverantwortung des Patienten. Weil man sich an dieses heikle Thema nicht ernsthaft traut, versucht man, Wettbewerb durch Reglementierungs-Druck auf die einzelnen Akteure im Gesundheitswesen herzustellen: Auf Ärzte, Kassen, Krankenhäuser, Apotheken, Pharma-Industrie - je nach Lobby-Stärke unterschiedlich ausgeprägt. Dieser Reglementierungs-Druck erzeugt unweigerlich Bürokratie. Und weil die Interessengruppen stets dazu tendieren, die Reglementierung zu unterlaufen, wächst die Bürokratie logischerweise ins Monströse -- siehe Gesundheitsfonds. Diesen fatalen Mechanismus schmiert die jetzige Reform weiter. Und das entscheidende demographische Problem geht sie nicht ernsthaft an. Deshalb wird sie - trotz einzelner vernünftiger Maßnahmen (Versicherung für alle, Förderung Hospizarbeit) - keinen Bestand haben. d.lintz@volksfreund.de

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