Selber schuld

Kann es sein, dass der deutsche Wähler schizophren ist? Vor zwei Monaten hat er rot-grün mit Karacho abgewählt und schwarz-gelb vehement die Mehrheit verweigert. Das Wahlergebnis hat eine große Koalition, also die Vereinigung nicht komplementärer, sondern gegensätzlicher Partner, förmlich erzwungen.

Und nun jammern alle darüber, dass es keine Politik aus einem Guss gibt und dass die Parteien ihre Versprechen nicht einhalten können. Ja, wie denn? Wenn sich aus der Wahl eine konkrete Aussage herauslesen ließ, dann die, dass die Wähler keine grundsätzliche Veränderung wollen. Nun bleibt die große Umstrukturierung aus, und überall wird beklagt, die Koalitionäre seien zu kurz gesprungen. Von allen Seiten wird nach Leibeskräften auf das eingeprügelt, was CDU und SPD beschlossen haben. Den einen geht es schon viel zu weit, den anderen längst nicht weit genug. Manche, wie die Zeitung mit den vier großen Buchstaben, konnten vor der Wahl gar nicht genug an harten Reformen kriegen, um nachher jeden Versuch, ernsthafte Einschnitte vorzunehmen, bis zur Besinnungslosigkeit zu geißeln. Wo nicht der geringste Ansatz eines gesellschaftlichen Konsenses über die Entwicklung des Landes herrscht, kann eine Regierung kaum mehr sein als das, was diese große Koalition zu werden scheint: Ein halbwegs ausgewogenes Sammelsurium von Klientel-Interessen. "Schlägst du meine Tante, schlag' ich deine Tante" hätte als Motto über den Koalitionsverhandlungen stehen können. Es gibt nur ein zentrales Projekt, das aus dem Hickhack heraussticht: die Sanierung der Staatsfinanzen. Weil sie durch Sparen und Subventionsabbau ebenso wenig im Konsens erzielbar gewesen wäre wie durch eine einträgliche Neuordnung des Steuersystems, hat man mit der Mehrwertsteuer-Erhöhung den Weg des geringsten Widerstands gewählt - aber auch den mit den gefährlichsten Nebenwirkungen. Das Problem dieser Regierung wird gleichwohl nicht sein, was sie beschlossen hat, sondern das, was sie offen lässt: Die grundsätzlichen Reformen des Steuersystems, des Gesundheitswesens, der Staatsbürokratie. Was wirklich schwierig ist, hat man vertagt. Vielleicht ging das zunächst nicht anders. Aber wenn es nicht bald nachgeholt wird, wird diese große Koalition, anders als ihre Vorgängerin in den 60er-Jahren, eine des Stillstands. Und das könnte das Land nicht brauchen. d.lintz@volksfreund.de

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