Zynismus pur

Eine Nation trauert - und stellt Fragen: Wie hätte das Massaker an der Technischen Hochschule in Virginia vermieden werden können? Und welche Konsequenzen sind aus dem folgenreichsten Blutbad zu ziehen, das sich in der amerikanischen Geschichte jemals in einer Bildungsstätte abgespielt hat?

Diese Debatten sind mittlerweile zur Routine geworden, wann immer ein Amoklauf die Bürger aufrüttelt. Doch ein Blick in die Vergangenheit zeigt die Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen, den durch derartige Katastrophen ausgelösten kollektiven Schock in wirksame Maßnahmen münden zu lassen. Die Schweigeminute, die von den Volksvertretern in Washington Stunden nach den Schreckensmeldungen eingelegt wurde, mutet deshalb wie purer Zynismus an. Ausgerechnet jene, die es bisher sträflich vernächlässigt haben, den Zugang zu Waffen zu erschweren, beweinen nun die Opfer. Dabei sind die Fakten weit über die Ereignisse von Blacksburg hinaus seit Langem erschreckend wie erschütternd: Mehr als 30 000 Menschen sterben jedes Jahr in den USA an den Folgen von Schussverletzungen. In keinem anderen Land - ausgenommen vielleicht momentan der Irak - befinden sich so viele Revolver und Flinten in privatem Besitz. In keinem anderen Land gibt es mehr Fälle von Massen-Tötungen bei Amokläufen. In zahlreichen Bundesstaaten - wie auch in Virginia - ist der Erwerb von Schusswaffen nicht schwieriger als der Kauf einer Sechserpackung Bier im Supermarkt um die Ecke. Das Gesetz in Virginia gestattet sogar jedem, der das 12. Lebensjahr vollendet, den Kauf von Gewehren - wobei bei den beliebten "Gunshows", wo oft von privat an privat gehandelt wird, keinerlei Überprüfung der Erwerber vorgeschrieben ist. Besonders folgenreich wirkte sich bisher die Weigerung des Kongresses aus, einen Bann halbautomatischer Waffen zu verlängern. Damit wurde ein breiter Markt eröffnet, der den Besitz von Magazinen mit bis zu 100 Schuss Munition wesentlich erleichtert - ein Amokläufer muß, hat er die richtige Waffe, nun nicht mehr zeitraubend nachladen, was die Interventionsmöglichkeiten durch Polizei und potenzielle Opfer minimiert. Doch ist Amerika jetzt endlich bereit, wirklich schmerzhafte Einschränkungen in Kauf zu nehmen? Die Ärzte kämpften noch um das Leben vieler schwer Verletzter, da waren die Befürworter und Gegner schärferer Gesetze bereits in Stellung gegangen. Wobei die Waffenlobby weiter unerschütterlich auf ihrem Standardargument beharrt, das Land brauche nicht weniger, sondern mehr Waffen: Seien die Studenten und Lehrer bewaffnet gewesen, so die erschreckende Wildwest-Logik der Industrie-Claquere, hätten sie sich zumindest wehren können. Nur den Vorschlag, Schießübungen als Pflichtfach an allen Schulen einzuführen, haben diese Trommler des Todes noch nicht gewagt. So wird man in den USA einmal mehr einige Tage trauern, nach "Heilung" von dem Trauma suchen, mit Seitenblick auf Hollywood Gewaltvideos verdammen - und am Ende doch wieder im Sinne jener Unternehmen handeln, die der Mehrheit der Volksvertreter die politische Existenz finanzieren nachrichten@volksfreund.de

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