Das Geschäft mit der Gewalt

Die Auseinandersetzungen um extreme Gewalt in Spielen und Filmen laufen seit 25 Jahren in den gleichen Bahnen ab. Der Jugendschutz hatte immer gewaltige Lücken und Schlupflöcher. Das will der Bund jetzt radikal ändern.

Trier. Wer heute die 40 erreicht oder gerade überschritten hat, der gehört zu der Generation, die sich mit 14 oder 15 Jahren in die Bahnhofskinos der nächsten größeren Stadt schleichen konnte. Da konnte noch so groß "Zutritt nur ab 18 Jahren" an der Tür stehen - niemand hat diesen Beschränkungen in den frühen 80ern größeres Interesse entgegengebracht. Die Teenager lockte der Reiz des Verbotenen, die Betreiber wollten Geld verdienen. So kam ein überwiegend jugendliches Publikum in den Genuss von Filmen wie "Ein Zombie hing am Glockenseil".Horror-Videos im Wohnzimmer

Erst als die Bahnhofskino-Filme plötzlich auf dem brandneuen Videorekorder im heimischen Wohnzimmer liefen, war das Maß voll. Das Jugendschutzgesetz wurde 1985 novelliert. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) kennzeichnete die Video-Hüllen mit Altersfreigaben und setzte einen gesprochenen Appell an den Anfang jeder VHS-, Betamax- und Video-2000-Kassette, dessen Text und Tonfall die meisten Video-Enthusiasten heute noch herunterbeten können. "Bitte achten Sie darauf, dass vor allem jüngere Familienmitglieder sich keine Programme anschauen, die für ihr Alter nicht geeignet sind." Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) hatte die Aufgabe, auf Antrag von Jugendministern und -ämtern jugendgefährdende Medien mit Werbe- und Verkaufsverboten zu belegen, damit sie nur noch Erwachsenen zugänglich sind. Der erwünschte Erfolg blieb aus und wurde ins Gegenteil verkehrt. Die mit ARD, ZDF und Südwest 3 aufgewachsenen Jugendlichen ließen sich nicht vom harten Stoff trennen, und der Bahnhofskino-Effekt wiederholte sich. Die Videothekare, oft kleine Unternehmer oder Franchise-Nehmer, drückten beide Augen zu, manchmal brachte auch der volljährige Bruder einen Schwung Zelluloid-Massaker mit nach Hause. Die 80er hätten einen funktionierenden Jugendschutz gut gebrauchen können. Humor oder gar Selbstironie waren im Horror- und Action-Genre dieser Epoche keine bestimmenden Größen. Knochenhart und todernst ging es zu. Von gefährlichen Computerspielen war damals allerdings noch keine Rede. Das änderte sich 1993. Die texanische Softwareschmiede "id software" veröffentlichte "Doom".Zum ersten Mal zeigte ein Spiel eine wirklichkeitsnahe 3D-Umgebung - in der ein einsamer Soldat mit einem riesigen Waffenarsenal, darunter auch eine Kettensäge, gegen endlose Gegnerhorden antrat. Geburtsstunde des Baller-Spiels

Die BPjS indizierte den Titel, er darf Minderjährigen nicht zugänglich gemacht oder öffentlich beworben werden. Sie spielten ihn natürlich trotzdem. "Doom" hatte ein neues Genre geprägt: Den Ego-Shooter, das Baller-Spiel. Das war der Startschuss der These, gewalthaltige Spiele und Filme bewirken eine Zunahme der realen Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen. Nach der Katastrophe von Erfurt 2002 (Einzelheiten in der Chronologie unten) wurde das Jugendschutzgesetz ein weiteres Mal novelliert. Aus der alten BPjS wurde die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die -auf Antrag - neben Spielen und Filmen auch Internet-Seiten überprüft.Dieses Prüfverfahren will Familienministerin Ursula von der Leyen mit ihrem Entwurf umgehen. Medien, deren zen-trales Stilmittel die Gewalt ist, sollen sofort indiziert und dem Zugriff von Jugendlichen entzogen werden. Eine Änderung des Jugendschutzes mit einer derartigen Tragweite hat es in Deutschland noch nie gegeben. Meinung Betroffenheit und pure Angst Wieder wird ein Schüler zum Amokläufer, wieder werden die neuen Medien zu einer Randerscheinung in diesem unvorstellbaren Drama. Millionen nutzen die Video-Plattform "YouTube" täglich. Es geht dabei um Unterhaltung, Kommunikation, Selbstverwirklichung. Für den jungen Finnen wurde "YouTube" zu einer Art weltweit sichtbarer Pinnwand, auf der er seine Ankündigung hinterließ. Bedauerlicherweise nahm sie offenbar niemand ernst. Betroffenheit und pure Angst werden es wie auch bereits nach Erfurt 2002 und Emsdetten 2006 quasi unmöglich machen, die Lage objektiv zu sehen. Es ist wohl ein Glück, dass Bundesministerin Ursula von der Leyen ihr Programm zur Verschärfung des Jugendschutzes nicht mit einem aktuellen Amoklauf im Nacken, sondern mit kühlem Kopf in einer katastrophenfreien Zeit erarbeitet hat. Von der Leyen hat verstanden, dass die Lösung nicht in totalen Verboten liegt. Es muss darum gehen, Jugendliche konsequent vor Medien zu schützen, die nicht für sie geeignet sind, die sie überfordern und verstören könnten. Dieser Schutz darf jedoch nicht zur Tabuisierung führen, und er erfordert sowohl das Engagement des Gesetzgebers als auch das der Lehrer und Eltern. j.pistorius@volksfreund.deChronologie Die blutigsten Amokläufe an Schulen und Universitäten:16. April 2007: Ein Amokläufer erschießt in der Technischen Universität in Blacksburg im US-Bundesstaat Virginia 32 Studenten und Lehrkräfte. Beim Eintreffen der Polizei nimmt sich der 23-jährige Englisch-Student aus Südkorea das Leben. 21. März 2005: Nach tödlichen Schüssen auf seinen Großvater und dessen Lebensgefährtin erschießt ein 16-jähriger Amokläufer in der Red Lake High School im US-Bundesstaat Minnesota sieben Menschen. Danach tötet er sich selbst. 26. April 2002: Ein 19-jähriger Schüler richtet ein Blutbad am Erfurter Gutenberg-Gymnasium an. Er tötet zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin und einen Polizisten. Dann erschießt er sich selbst. Er war der Schule verwiesen worden. 20. April 1999: Zwei mit Sturmgewehren bewaffnete US-Schüler töten in der Columbine High School in Littleton (Colorado) zwölf ihrer Mitschüler und einen Lehrer. Danach erschießen sich die Täter selbst. 13. März 1996: Aus Rache für seine Ausgrenzung als Jugendbetreuer richtet ein 43-jähriger Arbeitsloser in einer Grundschule im schottischen Dunblane ein Massaker an. Der Waffennarr erschießt in der Turnhalle 16 Erstklässler, deren Lehrerin und sich selbst.

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