Kurz nach dem Eid ein Anflug von Rührung

BERLIN. Am Tag ihrer Wahl zur ersten Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland hat Angela Merkel kaum Zeit zum Verschnaufen. Sachlichkeit, Distanz – und wenig Platz für Gefühle: In dieser Hinsicht bleibt sich die CDU-Chefin auch beim Gang in ihr neues Amt treu.

Jede Kanzlerwahl hat ihre außergewöhnlichen Randnotizen. Das war 1994 so, als ein verschlafener CDU-Abgeordneter im Laufschritt durch den Plenarsaal rannte, um Helmut Kohl noch schnell die dringend benötigte Stimme zu geben. 1998 gehörte zu den Besonderheiten, dass Gerhard Schröder sogar aus dem Oppositionslager heraus gewählt wurde. Und 2005, bei der Wahl von Angela Merkel zur ersten Bundeskanzlerin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland? Das Besondere spielt sich diesmal nicht allein im Plenarsaal ab. Dort geht es erschreckend routiniert zu, überschwänglich wird die neue Kanzlerin im schwarzen Hosenanzug nicht gefeiert, als Bundestagspräsident Norbert Lammert um 10.52 Uhr das Ergebnis verkündet. 51 Stimmen weniger als der großen Koalition zur Verfügung stehen hat sie bekommen, Union und SPD einigen sich in der Bewertung später auf einen "soliden Start". Nein, der Blick muss sich auf die "VIP"-Tribüne des Deutschen Bundestags richten, um das Außergewöhnliche bei dieser Kanzlerwahl zu entdecken. Denn dort ist einiges zu beobachten, das viel über Merkel selbst verrät. Auf dieser Tribüne sitzen zunächst in der ersten Reihe ihre Eltern, der Bruder und Freunde aus ihrem Wahlkreis Stralsund-Nordvorpommern-Rügen. Sehr gelassen nehmen sie das Spektakel auf. "Ich sage nichts", wehrt die Mutter nach der Wahl ihrer Tochter kategorisch ab. Ihr Vater, Pastor, hält es auf dem Weg in das Kanzlerzimmer des Reichstages, wo die neue Regierungschefin mit Kartoffelsuppe und Sekt wartet, genauso. Nur einmal hat Merkel kurz hochgewinkt, den Kontakt sucht sie nicht wirklich.Zu viel Nähe birgt Gefahren

Distanz ist eine der bestimmenden Eigenschaften dieser Frau - oft selbst zu denen, die ihr vertraut sein sollten. Zu viel Nähe birgt zu viele Gefahren, das hat sie in den vergangenen 15 Jahren ihrer politischen Blitzkarriere gelernt. Und mit ins Private gezogen, wie es heißt. Selbst im größten Moment ihrer Laufbahn, als der gut aufgelegte Bundestagspräsident Norbert Lammert die Namen aller bisherigen sieben Bundeskanzler aufzählt, und dann ihren anfügt, lächelt Merkel zwar, aber schon ist sie mit ihren Gedanken wieder weiter. Bei der Verkündung des Ergebnisses zuvor hat sie nur brav genickt, mehr nicht; es hat gut gereicht, drückt diese schmalspurige Geste aus. Der Genuss des Augenblicks geht ihr auch diesmal ab - muss ich jetzt aufstehen, kann ich sitzen bleiben, soll ich erst die Wahl und dann die Gratulation annehmen (Vorgänger Schröder ist der Erste), oder umgekehrt? Als Horst Seehofer, der neue Verbraucher- und Agrarminister von der CSU, ihr die Hand schüttelt, sagt er lächelnd zu ihr: "Ohne Worte." Soll heißen, er mag sie nicht, und sie wollte ihn nicht am Kabinettstisch. Edmund Stoiber ist schuld, dass es anders gekommen ist. Merkel fragt ausgerechnet in dieser Situation zurück: "Läuft das mit den Bauern?" Seehofer antwortet: "Bis jetzt sehr gut." An diesem historischen, persönlich einmaligen Tag, in solchen Momenten bleiben die Emotionen einfach außen vor, es dominiert ganz simpel das Sachliche. In ihrem Kopf rattern die Gedanken rauf und runter, man sieht es, wie sie sich aus den vielen Details, die im Plenarsaal auf sie einstürmen, die Realität zu basteln versucht. Ganz die Physikerin. Zur Realität gehört an diesem Tag auch, dass sich Ehemann Joachim Sauer, der öffentlichkeitsscheue Professor, die Ereignisse am Fernsehen ansieht und nicht unter den Zuschauern weilt. "Wie kann das sein?", fragen viele. Per Telefon soll er gratuliert haben. Das Paar legt nun mal extremen Wert darauf, seine Person und ihre politische Arbeit nicht miteinander zu vermengen - jeder, wie er mag. In der zweiten Reihe der besagten "VIP"-Tribüne findet sich aber zum Glück Merkels Damenriege, die Fankurve, die wie wild mit den Armen fuchtelt, als sie von der CDU-Chefin erblickt wird. Friede Springer, die Verlegerin. Sabine Christiansen, die Moderatorin. Oder Bertelsmann-Chefin Liz Mohn. Alle gut frisiert. Wie auf einem Schulausflug wird gegluckst, werden Plätzchen verteilt, an Johannes B. Kerner zum Beispiel, der einige Reihen weiter hinten Platz genommen hat. Bis eine Saaldienerin einschreitet, Spritzgebäck im Bundestag, das geht dann doch zu weit. Eigentlich ist diese aufgesetzte, öffentliche Lockerheit der Damen genau nicht Merkels Ding. Aber die mächtigen Frauen der Medienbranche gehören zum engsten Zirkel der neuen Kanzlerin - und man kann sich gut vorstellen, wie hinter verschlossenen Türen Politik abseits der dominierenden Männerriege gemacht wird. Auf die Republik wartet eine neue Frauen-Power. Erst als die 51-jährige Merkel am Nachmittag im Bundestag die Eidesformel gesprochen hat, scheint sie ein Anflug von Rührung zu erfassen. Sie steht vor dem Plenum und nimmt den Applaus in sich auf, die Anspannung des Tages bröckelt etwas ab. Als das Kabinett vereidigt wird, steht die neue Kanzlerin schon wie selbstverständlich am Platz mit der erhöhten Lehne, dem Kanzlerstuhl. Erstmals wirkt sie an diesem Tag wirklich entspannt. Am Abend folgt dann aber schon die nächste Kraftanstrengung. Merkel bleibt kaum Zeit, um all die einströmenden Ereignisse einfach mal sacken zu lassen. Gerhard Schröder erwartet sie an der Nordpforte des Kanzleramts zur Übergabe, die Mitarbeiter haben sich versammelt. Schröder kommen die Worte "Frau Bundeskanzlerin" zunächst etwas holprig über die Lippen, anschließend schüttelt er souverän eine Rede aus dem Handgelenk. Merkel, hörbar nervös, bedankt sich bei Schröder für das, "was Sie für unser Land geleistet haben"; er sei ein Kanzler gewesen, an den sich die Menschen erinnern würden. Schröder überlässt daraufhin seiner Nachfolgerin seinen Blumenstrauß und verlässt das Amt schnell durch die Ehrenpforte. Merkel fährt mit dem Fahrstuhl hoch in ihr neues, 140 Quadratmeter großes Kanzlerbüro, bevor am Abend die erste Kabinettssitzung folgt - und anschließend ein Fest für die Abgeordneten und Mitarbeiter im Konrad-Adenauer-Haus. Kaum Zeit zum Verschnaufen, kaum Zeit für Gefühl hat sie sich an diesem Tag genommen. Irgendwie typisch für diese Frau.

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