Personalpolitik mit dem Rasiermesser

BERLIN. Der rasante Abgang von Franz Müntefering kann eigentlich nur Beobachter überraschen, die den Werdegang von SPD-Vorsitzenden in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht verfolgt haben. Wo einst Kontinuität regierte, herrscht längst "hire and fire".

In den ersten 40 Jahren der Republik war der Posten des SPD-Chefs so sicher wie allenfalls noch der des Fußball-Bundestrainers. So wie sich mit Herberger, Schön und Derwall ganze drei Protagonisten den Job auf der Trainerbank teilten, gab es an der sozialdemokratischen Parteispitze mit Schumacher, Ollenhauer und Brandt von Mitte der 40er- bis Mitte der 80er-Jahre ganze drei Vorsitzende. Seither herrscht dort mehr Rotation als bei den Grünen. Mit Matthias Platzeck wird der neunte Bebel-Nachfolger innerhalb von 20 Jahren ins Ollenhauer-Haus einziehen. Brandt, Vogel, Engholm, Scharping, Lafontaine, Schröder, Müntefering, dazu für eine Interims-Saison Johannes Rau: Das klingt - um im Bild zu bleiben - wie das Trainer-Karussell einer notorischen Bundesliga-Fahrstuhlmannschaft. Der raue Umgang der ansonsten solidaritätsbetonten Genossen mit ihren Vormännern hat eine lange Tradition. Nur dass man früher die Zähne zusammenbiss und durchhielt. Dem Vorsitzenden Erich Ollenhauer beispielsweise entzog die Partei Ende der 50er-Jahre die Kanzlerkandidatur, kippte seine Freunde aus dem Vorstand und setzte stattdessen Herbert Wehner als Aufpasser und stellvertretenden Obervorsitzenden daneben. Dagegen ist Frau Nahles fraglos ein Klacks - aber Parteisoldat Ollenhauer blieb mit eiserner Disziplin im Amt, das er wie sein Vorgänger Kurt Schumacher bis zum buchstäblichen Tod in den Sielen ausübte. Selbst der Denkmalstatus von Willy Brandt, entstanden in 23 langen Vorsitzenden-Jahren, bewahrte die sozialdemokratische Legende nicht vor einem schnöden Abgang. In bewährter Patriarchen-Manier wollte er den Genossen einen von ihm selbst erkürten Außenseiter vor die Nase setzen - nein, nicht Wasserhövel, es war eine Dame namens Mathiopoulos. "Die kann auch Pressesprecher", sagte Brandt 1987, aber der Vorstand ließ ihn mit Höchstgeschwindigkeit auflaufen. Der Alte ging tief beleidigt, alle Genossen waren - zumindest für die Fernsehkameras - furchtbar bestürzt, aber hinter den Kulissen hieß es: "Es wurde auch irgendwann Zeit."Nur Vogel ging im Zug natürlicher Fluktuation

Es folgte mit Hans-Jochen Vogel der weit und breit einzige Spitzen-Sozi, dessen Abgang der natürlichen altersgemäßen Fluktuation entsprach. Seinen Nachfolger Björn Engholm raffte der lange Schatten des Barschel-Skandals kurz vor Toresschluss dahin. Als die Parteibasis danach in einer Art kollektiver Dämmerung Rudolf Scharping zum Vorsitzenden kürte, beförderte die Funktionärs-Truppe beim übernächsten Parteitag den drögen Lahnsteiner postwendend in den politischen Orkus. Eine einzige Rede von Oskar Lafontaine reichte, um den arglosen Vorsitzenden dem Meucheln preiszugeben. Oskar blieb ein ehrenwerter Mann und durfte, von einer breiten Mehrheit befördert, selbst den Platz in der ersten Reihe einnehmen. Seinen skandalträchtigen Abgang inklusive Rückzug ins Saarbrücker Exil inszenierte er 1999 immerhin selbst. Es folgte mit Gerhard Schröder einer, der eigentlich nie Lust auf den Kärrner-Job hatte. Immerhin hielt er den für einen Weltpolitiker zermürbenden Kontakt mit redefreudigen Parteirats-Mitgliedern, zu ehrenden Ortsvereinskassierern und renitenten Jusos fünf Jahre lang aus, bevor er den Staffelstab an Franz Müntefering weiterreichte - der ihn dann freilich vor dem ersten Wechsel schon fallen ließ. Oder wurde er fallen gelassen? Münte natürlich, nicht der Stab. Sieht so aus. Aber zumindest kann der designierte Nachfolger Platzeck später nicht behaupten, er hätte nicht gewusst, dass die SPD bei ihren Vorsitzenden eine Personalpolitik mit dem Rasiermesser macht.

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