Pinkeln mit Zuschauer

WITTLICH. Ein ehemaliger Gefangener der Justizvollzugsanstalt (JVA) Wittlich will Schadenersatz vom Staat erstreiten. Der Grund: Drei Monate seiner Haftzeit verbrachte er in einer Acht-Quadratmeter-Zelle ohne Abtrennung der Toilette zusammen mit einem weiteren Gefangenen. Kein Einzelfall.

Er saß wegen "Steuerhehlerei": ein 58-jähriger Mann aus der Region Trier, verurteilt zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe, die er vom 14. Dezember 2000 bis zum 15. November 2002 in der Justizvollzugsanstalt Wittlich absaß, bis er vorzeitig entlassen wurde. Für gut drei Monate - vom 10. Januar bis zum 18. April - war er eigenen Angaben zufolge in einer Zelle mit einem weiteren Gefangenen untergebracht. Auf acht Quadratmetern teilten sich beide ein Klosett, das ohne gesonderte Belüftung und ohne weitere Verkleidung unmittelbar beim Esstisch und den Schlafplätzen stand. Musste er ein "Geschäft", gleich welcher Art, erledigen, hatte er also zwangsläufig einen Zuschauer - dem er wiederum auch selbst bei dessen Toilettenbenutzung zusehen musste. Ein Zustand, den der Gefangene später als "unmenschlich, erniedrigend und menschenunwürdig" beschrieb. Er beschritt den Rechtsweg und beantragte bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Trier, festzustellen, dass seine Unterbringung rechtswidrig gewesen sei. Den Antrag stellte er im März 2003, lange nach seiner Entlassung. Viel zu spät, urteilte das Trierer Landgericht und wies den Antrag als "unbegründet" ab. Dieser hätte zwei Wochen nach Bekanntgabe der Maßnahme gestellt werden müssen. Ein "Rechtsschutzbedürfnis" für den Mann sei zudem nicht zu erkennen, weil der Verurteilte ja bereits entlassen sei, sich der Vorfall also nicht wiederholen könne. Außerdem sei der Antrag auch in der Sache unbegründet. Schließlich erlaube das Gesetz die gemeinsame Unterbringung von Gefangenen, wenn die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erforderten und die Anstalt vor 1977 gebaut worden sei. Das sei in Wittlich der Fall. Die Abweisung des Antrags hat das Oberlandesgericht Koblenz nun in einem Beschluss von Mitte Juli zerpflückt. Zumindest die Argumentation mit der abgelaufenen Frist. Unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht (BVG) weist das Oberlandesgericht die Trierer Richter an, den Antrag des Gefangenen gerichtlich zu überprüfen. Das BVG hatte ausgeführt, dass "bei schwer wiegenden Grundrechtseingriffen auch nachträglich ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit" bestehe. Bei der Unterbringung eines weiteren Gefangenen in einem Einzelhaftraum gebe es "verfassungsrechtliche Bedenken, da die Art der Unterbringung des Strafgefangenen dessen Menschenwürde verletzten kann". Angesichts dieser Begründung der höchsten deutschen Richter geht Jürgen Rieger, Rechtsanwalt des Ex-Gefangenen, nun davon aus, dass das Trierer Landgericht gar nicht mehr anders kann, als die Rechtswidrigkeit der Gemeinschaftsunterbringung festzustellen.Erster Schritt zur Schadenersatzklage

Das wiederum ist nötig, um Schadenersatz vom Staat für die dreimonatige Haftzeit einzuklagen. Rieger hat nach eigenen Angaben einen ähnlichen Fall in Hannover bereits gewonnen. Für fünf Tage sei sein Mandant mit 500 Euro entschädigt worden, sagte Rieger dem TV . Weitere Fälle gebe es zuhauf, deutschlandweit. Rieger glaubt, die Bundesländer seien schuld an der Misere, denn dass die Rechtsprechung eines Tages die gängige Praxis kippen würde, habe sich lange angedeutet. "Aber die Länder haben eine Vogel-Strauß-Politik betrieben und weggeschaut", kritisiert der Anwalt. Rheinland-Pfalz weist das zurück. Eine "gewisse Überbelegung" sei nicht zu vermeiden, sagt Fabian Scherf, Sprecher des Justizministeriums. Das Land tue alles, um eine menschenwürdige Unterbringung der Gefangenen zu gewährleisten. 78 Millionen Euro seien in das neue Gefängnis in Rohrbach investiert worden, weitere Millionen flössen in die Erweiterung der JVA Wittlich. Dass das Land tatsächlich zu Schadenersatz verurteilt wird, kann er sich nicht vorstellen. Angesichts der Investitionen könne dem Land schließlich kaum nachgewiesen werden, dass man "einen rechtswidrigen Zustand schuldhaft herbeigeführt habe". Scherf: "Wir stellen uns dem Problem ja." KOMMENTAR SEITE 2

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