Rot-Grün knickst vor Pharma-Lobby

BERLIN. Der Kanzler trifft sich mit Bossen aus der Pharma-Branche - und plötzlich purzeln längst festgezurrte Teile der Gesundheitsreform: Dierot-grüne Bundesregierung denkt offenbar darüber nach, auf Druck der Arzneimittel-Industrie die Festbeträge fürpatentgeschützte Medikamente zurückzunehmen.

Die gesetzlichen Krankenkassen fürchten um die in der Gesundheitsreform verankerten Einsparungen im Arzneimittelbereich. "Werden die Festbeträge für die patentgeschützten Arzneimittel nicht - wie gesetzlich vorgesehen - umgesetzt, werden die Ausgaben für Arzneimittel ab 2005 dramatisch steigen." Zu diesem Schluss kommen die Spitzenverbände der Krankenkassen in einer gemeinsamen Stellungnahme. Hintergrund für die Alarmstimmung ist ein Treffen des Kanzlers mit den Chefs deutscher Pharma-Unternehmen, das am Dienstagabend in Berlin stattfand. Dabei signalisierte die Bundesregierung den Pillen-Produzenten Entgegenkommen in der künftigen Preisgestaltung.Schein oder Sein?

Nach der Gesundheitsreform gelten ab 2005 auch für patentgeschützte Mittel Höchstpreise, die die Krankenkassen den Herstellern erstatten. Betroffen sind Arzneien, die keinen zusätzlichen Nutzen bringen. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt spricht hier von "Scheininnovationen", mit denen die Pharmafirmen den Patentschutz verlängern würden, um höhere Preise zu erzielen. Durch die Festbetragsregelung bei diesen Mitteln sollen die Kassen im kommenden Jahr eine Milliarde Euro sparen. Die Pharma-Branche bestreitet dagegen die Existenz von Scheininnovationen. Sie beklagt, dass die Festbeträge zu Lasten der Forschung und Entwicklung gingen und damit letztlich Arbeitsplätze vernichtet würden. In den deutschen Pharma-Betrieben arbeiten nach Angaben der Regierung rund 85 000 Menschen. Etwa 14 500 von ihnen sind in der Forschung beschäftigt. Die Innovationskraft der Branche dürfe nicht beeinträchtigt werden, begründete Regierungssprecher Béla Anda die Entscheidung. Der gemeinsame Bundesausschuss von Kassen- und Ärztevertretern hatte sich im Vormonat auf die Bildung von Arzneimittelgruppen festgelegt, in denen jeweils patentgeschützte und billigere Nachahmer-Medikamente (Generika) enthalten sind. Entscheidend ist nur noch die Gleichheit der Wirkstoffe. Dieser Mix hat einen geringeren Festbetrag zur Folge."Quadratur des Kreises"

Allerdings muss die Bundesregierung den Festlegungen des Bundesausschusses zustimmen. In einer gemeinsamen Erklärung mit den Pharma-Chefs heißt es nun: Die Sparauflagen seien so zu gestalten, "dass sie erfolgreiche Forschung und Entwicklung nicht bestrafen". Die Branche akzeptiert zwar, dass ein "beträchtliches Einsparvolumen" durch die Neugestaltung von Festbeträgen realisiert werden soll. Zugleich wird aber festgehalten, dass die Bildung großer Festbetragsgruppen vorbehaltlich einer rechtlichen Prüfung nicht zu erfolgen brauche, wenn das "angestrebte Einsparziel" auch durch eine andere Form derGruppenbildung erreicht werdenkönne. Gesundheitsexperten sehen in dieser Offerte "eine Quadratur des Kreises". Eine Sprecherin des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen erklärte gestern gegenüber unserer Zeitung: "Wir habenZweifel, dass sich die Einsparung von einer Milliarde Euro erreichen lässt, wenn von der gesetzlich festgelegten Bildung derFestbetragsgruppen abgerückt wird." Es wäre nicht das erste Mal, dass die Regierung Forderungen der Pharma-Lobby nachgegeben hat. Bereits im Jahr 2001 zog Rot-Grün eine Festbetragsregelung für Arzneien zurück. Damals durften sich die Pharma-Hersteller bei den Krankenkassen mit 200 Millionen Euro frei kaufen. Regierung und Pharma-Industrie wollen nun ihrGespräch vom Dienstagabend "zeitnah" fortsetzen.

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