Selbstmordwelle von US-Soldaten: Flucht vor der Todesangst

WASHINGTON. Schatten-Erscheinung des Irak-Krieges: Immer mehr US-Soldaten setzen ihrem Leben ein Ende - weil sie die psychischen Belastungen des Einsatzes nicht mehr aushalten.

Kyle Williams war gerade einmal 21 Jahre alt, als er vergangene Woche seinem Leben ein Ende setzte - mit einem Schuss ins Herz. Sieben Monate lang hatte der US-Soldat im Irak gedient - in jener 507. Instandhaltungs-Kompanie, die gleich in den ersten Kriegstagen bei Nasarijah nach einer Irrfahrt in einen Hinterhalt geraten war und dabei ein Dutzend Soldaten verloren hatte. Die Gefreite Jessica Lynch diente in derselben Kompanie - und ist nach ihrer spektakulären Befreiung aus irakischer Gefangenschaft heute ein Medienstar. Am Freitod von Kyle Williams hatten hingegen die Fernsehsender kein Interesse, sein Ableben war nur zwei regionale Zeitungen eine Meldung wert: Einem Blatt im kalifornischen San Diego, weil seine Leiche in einem Außenbezirk der Stadt gefunden worden war. Und einer Zeitung in Tucson im US-Bundesstaat Arizona, weil der mit sieben Gewehren und Revolvern ausgerüstete Kyle Williams einen Tag vor seiner Selbsttötung dort offenbar die Nerven verloren und einen jungen Mann hinterrücks erschossen hatte, der versucht hatte, von der Ladefläche von Williams` Geländewagen eine Kühlbox zu stehlen. Der Tod von Kyle Williams wurde in der Statistik des US-Verteidigungsministeriums unter die Rubrik eines "nicht kampfbezogenen Todes durch eine Schusswunde" eingeordnet. Dort müssen die Karteiführer immer häufiger Einträge vornehmen: Allein in den letzten sieben Monaten haben, wie das Pentagon jetzt gegenüber Reportern einräumen musste, 14 Soldaten im Irak Selbstmord begangen. Zwölf weitere Todesfälle werden derzeit noch untersucht und dürften am Ende vermutlich ebenfalls als Selbsttötungen eingeordnet werden. Die Todesziffer wird noch durch jene Armee-Angehörige in die Höhe geschraubt, die sich nach ihrer Rückkehr in die Heimat das Leben genommen haben - doch über deren Zahl gibt es offiziell derzeit keine Auskünfte. Nervenärzte auf dem Weg in den Irak

Das Pentagon hat nun ein Team von Psychologen, Nervenärzte und Sozialarbeitern in den Irak geschickt, um die Gründe für die beunruhigende Selbstmordwelle zu ermitteln und mögliche Therapien für Gefährdete zu entwicklen. "Dieses Phänomen macht uns große Sorgen", sagt Elspeth Ritchie, ein Psychiater der Gesundheitsabteilung der US-Armee. Auffällig ist, dass die meisten Selbstmorde nach dem 1. Mai stattgefunden haben - dem Tag, an dem US-Präsident Bush auf einem Flugzeugträger das offizielle Ende der größeren Militäroperationen verkündet hatte. Als Gründe für die Verzweiflungstaten vermutet man in Washington vor allem die ungewöhnlich lange Dienstzeit der Soldaten und die Nervenbelastung durch den gefährlichen Alltag und ständig drohende Anschläge. Dieser Herausforderung zeigte sich offenbar auch der 20-jährige Corey Small aus der kleinen, von deutschen Einwanderern gegründete Stadt East Berlin im US-Bundesstaat Pennsylvania nicht gewachsen. Der Vater eines vierjährigen Sohnes, Mitglied einer Aufklärungseinheit, nahm sich nach nur achtwöchiger Dienstzeit im Irak mit einem Schuss in die Schläfe das Leben - nach einem Telefonat mit seiner Frau in den USA und vor den Augen von Soldaten, die in Bagdad alle darauf warteten, ebenfalls das Telefon zu benutzen. Bis heute rätselt seine Heimatstadt, was Corey Small zum Freitod getrieben haben könnte. Doch die meisten Bürger sehen das Geschehene als Resultat der militärischen Intervention: "Er ist ein Opfer des Krieges, unabhängig von den Umständen seines Todes", sagt Barry Schuchart, ein Armee-Veteran aus East Berlin.

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