Streicheleinheiten für die Linken

BERLIN. "Zurück zu den Wurzeln" heißt die Parole von SPD-Fraktionschef Franz Müntefering. Er schmiedet an einem neuen Parteiprogramm und besinnt sich dabei auf traditionelle sozialdemokratische Werte.

Auf der politischen Bühne der Republik scheinen sich zwei sozialdemokratische Parteien zu tummeln. Die eine SPD ist die Partei der "Agenda 2010", wie sie vom Bundeskanzler vor zwei Jahren postuliert wurde. Die andere SPD ist die Partei der Tradition und der sozialdemokratischen Werte, wie sie der Vorsitzende Franz Müntefering gestern in einer Grundsatzrede beschworen hat. "Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns", meinte Müntefering. Und es klang ein bisschen so, als hätte Karl Marx dabei die Feder geführt. Nun könnte man die erstaunliche Rückbesinnung auf klassenkämpferische Tugenden mit dem Hinweis abtun, dass entscheidende Landtagswahlen vor der Tür stehen und deshalb auch die linke sozialdemokratische Seele mit ein paar Streicheleinheiten bedient werden muss. Zumal es an Rhein und Ruhr zur Sache geht, der "Herzkammer der SPD". Doch Münteferings Worte galten der Vorbereitung des neuen Parteiprogramms, das die Genossen auf ihrem Parteitag im November in Karlsruhe verabschieden wollen. Deshalb war die Rede nicht nur purer Wahlkampf, auch wenn sie für die aktuellen Debatten wie gemacht schien. Denn es stimmt ja, dass in Zeiten düsterer wirtschaftlicher Bedingungen scheinbar immer mehr Unternehmen zu Methoden greifen, die dem Nachkriegsmodell des rheinischen Kapitalismus zutiefst Hohn sprechen. Erinnert sei nur an die Beschäftigung osteuropäischer Drückerkolonnen in deutschen Schlachtbetrieben. Von einer gesellschaftlichen Mitverantwortung solcher Firmen kann keine Rede mehr sein. Ökonomie, so Müntefering, kalkuliere die Menschen zwar ein, "aber nur in Funktionen: als Größe in der Produktion, als Verbraucher oder als Ware am Arbeitsmarkt". Sein flammendes Bekenntnis zu einer "sozialen Marktwirtschaft" statt "Marktwirtschaft pur" klingt da fast schon wie ein einsamer Ruf in der Wüste. Auch den politisch eher uninteressierten Zeitgenossen hat längst die Erkenntnis beschlichen, zum Spielball ungehemmter Marktkräfte zu werden. Entsprechend dürftig ist das Ansehen des Staates in den Augen der Bürger geworden. Der SPD-Chef sieht die Notwendigkeit, darauf "politisch zu reagieren" und die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der nationalen Regierungen durch die Europäische Union auszugleichen. Doch auch dieser Institution schlägt permanentes Misstrauen entgegen. Die EU müsse sich entscheiden, analysiert Müntefering: "Will sie dem Markt unter der Überschrift Wettbewerb Schneisen schlagen, die auch die sozialstaatlichen Aufgaben einzelner Staaten massiv tangieren? Oder will sie, im Sinne der EU-Verfassung, gemeinsam mit den Nationalstaaten eine demokratische und soziale Union?" Das sind zweifellos die entscheidenden Fragen. Doch in der Praxis zeigt sich, dass die klassische SPD hier auf verlorenem Posten steht. Ein Beispiel ist die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie der EU, die letztlich einen Import niedrigerer Sozialstandards in unser Land markiert. Auch wenn in Brüssel noch kräftig nachverhandelt wird, so ist doch jetzt schon klar, dass die Reise in Richtung grenzenloser Wettbewerb geht.

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