Touristen ohne Geld pilgern zum Polen-Markt

Der Mauerfall am 9. November 1989 war ein historischer Glücksfall - und kam dennoch nicht völlig überraschend. Unser Hauptstadt-Korrespondent Werner Kolhoff war damals Sprecher des (West-)Berliner Senats und Vertrauter des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper (SPD).

In dieser Serie schildert Kolhoff bis zum 12. November täglich seine persönlichen Erlebnisse rund um den Tag des Mauerfalls.

30. Oktober 1989, Montag:

Die DDR-Presse hat über das gestrige Gespräch Walter Mompers mit SED-Bezirkssekretär Günter Schabowski nur sehr kryptisch berichtet. "Fragen der Beziehungen DDR-Berlin (West)" seien erörtert worden, heißt es im SED-Deutsch.

Mehr nicht. Wir wollen die neuen Machthaber in Ost-Berlin jedoch jetzt öffentlich festnageln. Wohl wissend, dass das alles drüben via Radio und Fernsehen wahrgenommen werden wird, informiere ich die Presse deshalb ausführlich über das Treffen. Vor allem darüber, dass Schabowski uns "echte Reisefreiheit" für die DDR-Bürger bis Anfang Dezember zugesagt hat.

Ich rede auch davon, dass West-Berlin bald mit vielen "DDR-Touristen" rechnen müsse. Das seltsame Wort hat einen Hintergrund. Schon seit über einem Jahr lässt Polen seine Bürger reisen. Seitdem sind Tausende Menschen aus dem Nachbarland in die Stadt gekommen.

Am Potsdamer Platz, damals ein unbebautes Gelände, ist ein wilder Markt entstanden. Die Kritik daran ist immer lauter geworden, die Ausländerfeindlichkeit wächst. Viele Berliner, so sehr sie sich offene Grenzen wünschen, wollen ihre Folgen nicht wahrhaben. Deshalb rede ich von "Touristen". Wir wollen die Ängste eindämmen.

Im Rathaus Schöneberg bereiten wir den ganzen Tag vor, was wir am nächsten Vormittag in der Senatssitzung beschließen werden: Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die das erwartete Chaos in geordnete Bahnen lenken soll. Wir nennen sie betont harmlos "Projektgruppe zur Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und Reiseverkehr aus Ost-Berlin und der DDR". Offiziell reden wir davon, dass wir nach der Maueröffnung 100 000 bis 300 000 Besucher pro Wochenende erwarten. Intern rechnen wir mit 500 000. Tatsächlich werden es nach dem 9. November zwei Millionen sein.

Wir definieren die Aufgaben. Das wichtigste ist der Verkehr. All die Leute müssen irgendwie nach West-Berlin rein- und wieder rauskommen. Der Chef der Senatskanzlei, Dieter Schröder, aktualisiert eine Liste mit neuen Grenzübergängen, die kurzfristig errichtet werden könnten.

100 D-Mark Begrüßungsgeld für einreisende DDR-Bürger



Die Gesundheits- und Sozialverwaltung wird gebeten, Vorschläge zu machen, wie hilfebedürftige Menschen und Flüchtlinge versorgt werden können. Und schließlich geht es ums Geld. Bisher zahlen die zwölf Bezirksrathäuser die 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger aus. Nur: Wenn Hunderttausende kommen, brauchen wir wohl viel mehr Zahlstellen, damit die Gäste ihren ersten Tag in Freiheit nicht in einer Warteschlange verbringen müssen.

Schon in der vorigen Woche haben wir dem Kanzleramt einen Brief geschrieben und vorgeschlagen, die Auszahlung direkt durch die Staatsbank der DDR vornehmen zu lassen. Bisher hat Bonn nicht geantwortet. Ich weise an diesem Montag gegenüber der Presse noch einmal auf diese Idee hin, denn hier bahnt sich ein Konflikt mit der Bundesregierung an.

Schließlich legen wir fest, wer in der Arbeitsgruppe sitzen soll. Jörg Rommerskirchen, Staatssekretär für Wirtschaft, leitet sie zusammen mit mir. Am Abend gucke ich kurz in den "Schwarzen Kanal" des DDR-Fernsehens. Der Agitator Karl-Eduard von Schnitzler verabschiedet sich vom Publikum. "Sudel-Ede" ist abgesetzt worden. Ein ideologischer Mauerstein weniger.

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