Wenn die Dunkelheit ins Innere kriecht

TRIER. Bleibt die Sonne weg, verdunkelt sich bei vielen Menschen die Seele: Depressive Erkrankungen schnellen im Herbst in die Höhe. Nicht jeder Anflug von Trübsinn ist gleich ein Fall für Psychotherapeuten und Psychiater. Doch Alarmsignale müssen ernst genommen werden.

Kurze Tage, lange Nächte, Schmuddelwetter: Vielen Menschen fällt es derzeit schwer, bei Laune zu bleiben. Sie fühlen sich schlapp, ausgelaugt und kämpfen gegen trübsinnige Gedanken. Kurz: Sie haben den "Herbstblues". Doch bei einem Prozent der Bevölkerung geht es um mehr als eine vorübergehende Traurigkeit: 800 000 Deutsche leiden an "Saisonal abhängigen Depressionen" (SAD). Diese Zahl nennt das Kompetenznetzwerk Depression, ein bundesweiter Zusammenschluss von Fachleuten. Die SAD beginnt meist im Herbst und endet im Frühjahr. "In der kalten Jahreszeit beobachten wir einen Anstieg depressiver Erkrankungen um zehn Prozent", sagt der Münchener Professor Ulrich Hegerl, Sprecher des Netzwerks. Schuld an den Winterdepressionen ist Lichtmangel. "Licht wirkt auf die Produktion des Hormons Melatonin, das unter anderem den Schlaf- und Wach-Rhythmus beeinflusst", erklärt Hegerl. Meist helfen SAD-Betroffenen viel Bewegung an der frischen Luft, Ablenkung oder eine Lichttherapie über die schwierige Zeit. "Kommt die Traurigkeit aber überfallartig und hält drei, vier Wochen an, sollte man zum Arzt gehen", rät Dr. Dr. Wilhelm Classen, Chefarzt der Psychiatrie des Trierer Mutterhauses der Borromäerinnen. Auch vermehrte Unruhezustände sowie Ein- und Durchschlafprobleme seien Zeichen für eine schwerwiegendere Erkrankung. Während SAD-Betroffene oft ein übermäßiges Schlafbedürfnis und Heißhunger auf Süßigkeiten haben, geht mit klassischen Depressionen Schlaf- und Appetitlosigkeit einher. Eine Alternative zu professioneller Hilfe gibt es bei schwereren Depressionen nicht - da sind sich die Experten einig. Das Problem sei, das einzusehen, sagt Professor Hegerl. Depressionen würden immer noch nicht als "richtige Krankheit" anerkannt und mit normalen Stimmungsschwankungen verwechselt. Nach Schätzungen des Kompetenznetzes gehen vier von zehn depressiven Patienten nicht zum Arzt und riskieren eine weitere Verschlechterung. Oft sehen sie später nur noch einen Ausweg: Selbsttötung. 15 Prozent aller schwer depressiven Patienten nehmen sich dem Netzwerk zufolge das Leben, jeder zweite hat einen entsprechenden Versuch hinter sich. Wie es anders geht, hat ein Modellprojekt in Nürnberg gezeigt. Dort startete im Januar 2001 eine breit angelegte Aufklärungskampagne zum Thema Depression - mit Kinospots, Plakaten und Aktionstagen. Parallel dazu wurden Menschen aus medizinischen und sozialen Berufen geschult, um die Krankheit besser erkennen und behandeln zu können. Ergebnis: Schon nach dem ersten Jahr sank die Suizid-Rate um 25 Prozent. Lassen sich Depressive behandeln, sind die Prognosen gut: Bei den meisten gelinge eine Stimmungsstabilisierung, so dass sie normal leben könnten, sagt Mutterhaus-Experte Classen. Zehn bis 15 Prozent würden sogar völliggeheilt. Hilfe und Rat finden depressive Menschen und ihre Angehörigen unter anderem in dem Ratgeber "Depressionen überwinden" der Stiftung Warentest, den es im Buchhandel gibt, beim Verband Psychiatrie-Erfahrener in Trier unter Telefon 0651/29448 und im Internet unter www.kompetenznetz-depression.de.

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