Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie...

TRIER. In Deutschland sterben jährlich mehr Menschen durch Nebenwirkungen von Medikamenten als durch Verkehrsunfälle. Ärzte und Apotheker wissen oft nicht Genaues über mögliche Nebenwirkungen. Viele Medikamente sind zudem nicht ausreichend getestet.

 Laut Stiftung Warentest ist nur knapp die Hälfte der Medikamente, die in Deutschland erhältlich sind, nach dem Arzneimittelrecht zugelassen.Foto: TV -Archiv/Willi Speicher

Laut Stiftung Warentest ist nur knapp die Hälfte der Medikamente, die in Deutschland erhältlich sind, nach dem Arzneimittelrecht zugelassen.Foto: TV -Archiv/Willi Speicher

"Sehr selten sind Magen-Darm-Beschwerden wie Magenschmerzen und geringfügige Blutverluste aus dem Magen-Darm-Bereich sowie Übelkeit, Erbrechen und Durchfälle. In Einzelfällen wurden Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Verminderung der Blutzuckerwerte sowie besonders schwere Hautausschläge festgestellt." Das ist nicht etwa der Auszug aus dem Beipackzettel eines starken Schmerzmittels. Das sind nur einige der Nebenwirkungen von Aspirin, einem in Apotheken frei erhältlichen Medikament. Und immerhin sterben an den als "sehr selten" beschriebenen Nebenwirkungen nach Expertenansicht jährlich einige hundert Patienten. Pillen auf Rang sechs der Todesursachen

Untersuchungen der Rheuma-Klinik in Wiesbaden aus dem Jahr 2000 ergaben, dass es jedes Jahr 1100 bis 2200 Todesfälle durch Rheuma-Mittel gibt. Todesursache sind häufig Blutungen im Magen-Darm-Trakt. Für Professor Peter Schönhofer, Herausgeber des Fachblatts "Arznei-Telegramm", ist die zunehmende Zahl der Todesfälle nach der Einnahme von Arzneimitteln alarmierend. 16 000 Menschen sterben nach seiner Erkenntnis pro Jahr an den Nebenwirkungen von Medikamenten: "Durch Arzneimittel bedingte schwerwiegende Gesundheitsschäden oder Todesfälle übersteigen die Zahl der Schwerverletzten oder Toten im Straßenverkehr", sagt Schönhofer. Arzneimittel belegen in Deutschland den sechsten Platz in der Statistik der Todesursachen, in den USA rangieren sie sogar auf Platz vier direkt hinter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Schlaganfall. Die Erkenntnisse Schönhofers beruhen auf der Erfassung von Patienten, die zwischen 1986 und 2000 in den vier Bremer Zentralkrankenhäusern wegen schwerer Nebenwirkungen eingeliefert wurden. In diesen zwölf Jahren wurden in Bremen 2000 Fälle registriert, 617 Patienten waren in einem lebensbedrohlichen Zustand, 170 starben. Schönhofer geht davon aus, dass nur jeder fünfte Fall erkannt worden ist. Er rechnet die Bremer Zahlen auf die 16 Millionen Krankenhausaufenthalte pro Jahr hoch und kommt auf mindestes 200 000 Fälle von schwerwiegenden unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen sowie 16 000 Todesfälle. Die Stiftung Warentest spricht in ihrem Handbuch "Medikamente" sogar von jährlich 300 000 Fällen und 25 000 Toten. Schönhofer hält diese Zahl für zu hoch. Sie sei das Ergebnis einer fehlerhaften US-Studie, die einfach auf Deutschland umgerechnet worden sei. Laut Stiftung Warentest sind von den 45 000 Medikamenten, die in Deutschland angeboten werden, lediglich 25 000 nach dem Arzneimittelrecht zugelassen. Ursprünglich war vorgesehen, dass ab 1991 nur noch Mittel angeboten werden dürfen, die eine strenge Zulassungsprozedur durchlaufen haben. Erst im Juli 2000 wurde die Nachzulassung verschärft. Die Pharmahersteller mussten sich dann entscheiden, ob sie für ihre Mittel die notwendigen Unterlagen für den Nachweis der Wirksamkeit einreichen oder ob sie ihre Pillen und Salben ohne Zulassung auslaufen lassen wollten. Diese Nachlassung soll bis 2005 abgeschlossen sein. Für 6000 Präparate wurde eine Nachzulassung beantragt. Im vergangenen Jahr hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 2069 dieser Anträge abgeschlossen. Es hätten noch mehr sein können, wenn das Elbe-Hochwasser nicht 1600 Akten, die in Sachsen gelagert waren, vernichtet hätte. Dennoch ist man beim BfArM zuversichtlich, die Nachzulassung bis Ende 2005 abzuschließen. Dann können die Patienten zwar sicher sein, nur noch zugelassene Arzneimittel in Deutschland zu erhalten. Aber auch diese werden nicht frei sein von Nebenwirkungen. Bei der Zulassung werden lediglich die Wirksamkeit, die Unbedenklichkeit und die pharmazeutische Qualität überprüft. Trotz Zulassung wurden einige Mittel wieder vom Markt genommen, weil sich erst beim Gebrauch herausstellte, dass zu viele unerwünschte Wirkungen aufgetreten sind. Bringt ein Pharmahersteller ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff auf den Markt, dann testet er das Präparat zunächst im Labor und an Computermodellen. Danach wird der Wirkstoff an gezüchteten Zell- und Organkulturen ausprobiert. Dann folgen Tierversuche, die zeigen, ab welcher Dosis der Stoff giftig ist. Erst danach folgen klinische Versuche an Menschen, zunächst an gesunden Freiwilligen, dann an Kranken, um herauszufinden, ob der Stoff wirkt und wie lange er braucht, bis er anschlägt und welche erkennbaren Nebenwirkungen er hat. Erst wenn alle Testphasen abgeschlossen sind, wird die Zulassung des Medikamentes beantragt. Bei den Versuchen wird allerdings nicht unterschieden, ob das Medikament eher für einen jungen Mann, eine alte Frau oder ein Kind geeignet ist. Meistens sind die Versuchspersonen junge Männer. An Frauen werden die wenigsten Medikamente vor ihrer Zulassunggetestet. In medizinischen Studien seien Frauen unerwünscht, angeblich wegen der Hormonschwankungen, die die Testergebnisse beeinflussen könnten, beschweren sich Kritiker. Eine andere Begründung lautet: Die Frauen könnten während der Versuchsreihe schwanger werden, und die zu testenden Mittel könnten die Schwangerschaft gefährden. Fest steht auf jeden Fall, dass manche Mittel bei Frauen anders wirken als bei Männern und oft auch andere Nebenwirkungen haben. Arzt muss auf Beipackzettel vertrauen

Doch Nebenwirkungen werden nicht systematisch erfasst. Kein Arzt hat die Möglichkeit, vor dem Verschreiben eines Medikamentes sich über mögliche Komplikationen zu informieren. Er muss sich auf das verlassen, was im Beipackzettel steht. "Das deutsche Frühwarnsystem für Arzneimittel-Nebenwirkungen muss weiter ausgebaut werden", fordert die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft bereits seit Jahren. Der Pharmakologe Schönhofer sieht eine große Gefahr in den wirtschaftlichen Aspekten der Arzneimittelzulassung. Sein Fazit: Der Profit ist wichtiger als der Patient. "Eine Therapie-orientierte Auswahl der besten verfügbaren und sichersten Arzneimittel wird durch den Werbedruck des Marketings und durch vom Marketing korrumpierte Experten und Meinungsbildnern verhindert."

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