Künftige Kommissare im Kreuzverhör

Brüssel · Insgesamt 81 Stunden lang wird die neue EU-Kommission in den nächsten Tagen gegrillt werden. Jeder der 27 Kandidaten, die der künftige Chef Jean-Claude Juncker für einen bestimmten Aufgabenbereich nominiert hat, muss sich drei Stunden den Fragen der Europaabgeordneten stellen. Keine leichte Übung, weshalb die Anwärter in den vergangenen Tagen allesamt fleißig trainiert haben.

Brüssel. Die Anhörungen sind traditionell kein Selbstläufer. Schon in der Vergangenheit hat sich manch einer um Kopf und Kragen geredet. So fiel 2004 der Italiener Rocco Buttiglione wegen frauen- und schwulenfeindlicher Äußerungen durch. Zwar wählt das Parlament die EU-Kommission nur als Ganzes und kann formal nicht Einzelpersonen die Zustimmung verweigern - doch ist es gängige Praxis geworden, dass bei Unzufriedenheit mit einer Personalie ein Nein zum Gesamtgremium angedroht wird. So geschah es auch 2009, als die Bulgarin Rumjana Schelewa wegen undurchsichtiger Finanzgeschäfte abgelehnt wurde.
Schon heute Abend muss der Deutsche Günther Oettinger in die Bütt. Da er schon fast fünf Jahre Energiekommissar gewesen ist, wird es den Abgeordneten kaum um seine europäische Einstellung oder persönliche Integrität gehen. Vielmehr werden die Fragen darum kreisen, ob der 60-Jährige, der eingeräumt hat, kein "digital native" zu sein, fachlich auf der Höhe dessen ist, was von einem EU-Digitalkommissar verlangt wird. Und natürlich werden die Abgeordneten ihn zu politischen Festlegungen drängen - bei der Urheberrechtsreform, der angedachten Schaffung eines digitalen Binnenmarkts oder dem Breitbandausbau auf dem Land.
Der erste echte Wackelkandidat muss noch vor Oettinger Rede und Antwort stehen. "Fachlich unerfahren" lautet einer der Vorwürfe gegenüber dem 64-jährigen Malteser Karmenu Vella, der Umweltkommissar werden soll. Es geht aber auch um den Zuschnitt des Ressorts, dem Juncker wichtige Zuständigkeiten entrissen und dem Industriekommissar zugeordnet hat. Umweltverbände kritisieren, dass Vella den Auftrag bekommen hat, die als vorbildlich geltenden EU-Naturschutzgesetze zu modernisieren - etwa den Vogelschutz, wo Malta alles andere als Vorbild ist.
Am Mittwoch aber ist der eigentliche Tag der Wackelkandidaten. Dann tritt nicht nur der für das neu gebündelte Energie- und Klimaressort nominierte Spanier Miguel Arias Canete auf, der sich mehrfach sexistisch geäußert haben soll und bis vor kurzem auch noch Aktionär eines Erdölunternehmen war. Politisch noch brisanter werden die Anhörungen von Jonathan Hill aus Großbritannien und Tibor Navracsics aus dem erzkonservativ regierten Ungarn.
Beide Länder waren gegen den sogenannten Spitzenkandidatenprozess bei der Europawahl, der letztlich das Europaparlament stärkte und Juncker zum Kommissionschef werden ließ. Würden die Abgeordneten nun ausgerechnet die Kommissarskandidaten deren Regierungen ablehnen, dürfte der Ärger gewaltig sein. In der CDU-Gruppe des Europaparlaments wird beispielsweise eingeräumt, dass die Frage so wichtig ist, dass man sie schon im Vorfeld mit dem Berliner Kanzleramt diskutiert hat - Anweisungen erhalten zu haben, weist man freilich von sich. Klar jedoch ist, dass Juncker Hill das wichtige Finanzmarktressort ausdrücklich deswegen zugeteilt hat, um London mittelfristig den Verbleib in der EU schmackhaft zu machen.
Der Aufschrei freilich ist groß, weil Hill als ehemaliger Unternehmensberater selbst Teil der Londoner City ist, die einen Großteil des zu regulierenden Kapitalmarkts in Europa ausmacht. Der FDP-Abgeordnete Michael Theurer etwa will fragen, "was Herr Hill mit geheimen Informationen über Banken der Eurozone machen könnte". Dass hier ein Sprengsatz lauert, hat auch Juncker eingesehen; erst am Freitag sagte er zu, Hill die Zuständigkeit für die Überwachung der neuen Banker-Boni-Richtlinie zu entziehen und dem Justizkommissar zu übertragen.
Theurer glaubt an einen "Nicht-Angriffs-Pakt" zwischen Christ- und Sozialdemokraten. Danach hätte etwa der als EU-Währungskommissar vorgesehene Sozialist Pierre Moscovici trotz heftiger Attacken aus der CDU am Ende nichts zu befürchten, solange die Genossen den Spanier und den Ungarn in Ruhe lassen. SPD-Gruppenchef Udo Bullmann weist solche Vorhaltungen weit von sich. Wäre es doch so, könnte die den Liberalen zugerechnete Alenka Bratusek das Bauernopfer werden. Bis vor Kurzem noch slowenische Ministerpräsidentin, soll sie sich quasi selbst nach Brüssel geschickt haben. Juncker sagt, die Personalie sei mit der neuen Regierung abgesprochen; die bestreitet das.Extra

Die Europäische Kommission ist die wichtigste Behörde der Europäischen Union. Sie kontrolliert die Einhaltung der europäischen Rechtsvorschriften durch die 28 Mitgliedsstaaten und kann deren Anwendung einklagen. Sie macht die Gesetzesvorschläge für das Europaparlament und den Ministerrat, in dem die nationalen Regierungen vertreten sind. Der Präsident der Europäischen Kommission, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, legt Ziele und Prioritäten der Arbeit fest. Damit übt er erheblichen Einfluss auf die Politik in der Europäischen Union aus.

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