Weltgemeinschaft gibt neun Milliarden Euro für Syriens Kriegsopfer

London · Die Weltgemeinschaft zahlt rund neun Milliarden Euro (gut zehn Milliarden Dollar) an internationale Hilfsorganisationen für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. Das teilte der britische Premierminister David Cameron am Donnerstag in London nach der Syrien-Geberkonferenz mit.



London (dpa) - Mitmenschlichkeit gegenüber den 13,5 Millionen Syrern, die inzwischen Hilfe benötigen, und Eigennutz schließen sich nicht aus. Das zumindest ist der Ansatz der Syrien-Geberkonferenz in London, zu der am Donnerstag zahllose Hilfsorganisationen und die Staats- und Regierungschefs von 70 Ländern zusammengekommen sind. Niemand will es so direkt sagen, aber natürlich geht es auch darum, dass sich nicht noch mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen - indem etwa die humanitären Notprogramme der Vereinten Nationen endlich voll finanziert werden. "Die Kürzungen, die durchgeführt wurden, waren unerträglich", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in London, "und haben die Menschen zur Flucht genötigt."

Nun soll schnell vergessen gemacht werden, dass im vergangenen Jahr nur beschämende 53 Prozent der von den UN-Organisationen verlangten Geldmittel zusammenkamen - 3,86 statt der verlangten 7,4 Milliarden US-Dollar. Angesichts der immer weiter eskalierenden Lage zum Beispiel in der Stadt Aleppo oder dem ausgehungerten Ort Madaja beläuft sich der für das laufende Jahr errechnete Hilfsbedarf auf insgesamt 8,96 Milliarden Dollar. Dieser Betrag wurde in London erreicht, garniert mit dem vielleicht noch wichtigeren Versprechen, dass diesmal nicht nur zugesagt, sondern auch wirklich gezahlt werden soll.

Die Vertreterin Deutschlands, das den Löwenanteil der syrischen Flüchtlinge in Europa aufgenommen hat, bringt dementsprechend die größte finanzielle Zusage mit in die britische Hauptstadt. Eine Milliarde Euro für das Jahr 2016 aus der deutschen Staatskasse sollen nun die Fluchtursachen bekämpfen helfen, davon 570 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm - die Hälfte dessen, was es von allen Staaten gefordert hat. Bis 2018 wird die Bundesrepublik Merkel zufolge insgesamt 2,3 Milliarden Euro geben, die für die Menschen in und um Syrien auch langfristige "Perspektiven eröffnen" sollen, Bleibeperspektiven, wenn man so will.

Es geht daher nicht allein um die angemessene Finanzierung der Nothilfe, sondern um Wiederaufbau und Entwicklungshilfe, also langjährige Verpflichtungen, wie sie beispielsweise die norwegische Ministerpräsidentin Erna Solberg eingeht. "Selbst wenn der Krieg in Syrien morgen durch ein Wunder beendet würde", sagt der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon als Mitveranstalter, "würden die Menschen dort noch jahrelang unsere Unterstützung benötigen."

In bewegenden Worten schildert die Syrerin Rouba Mhaissen von der in einem libanesischen Flüchtlingslager tätigen Hilfsorganisation Sawa, was die dort Schutzsuchenden am ehesten für ein erträgliches Leben brauchen: "Sie bitten uns nicht um Essen, sondern darum, dass sie ihre Kinder zur Schule schicken können." Von den 1,4 Millionen Kindern aus Syrien, die mit in die Nachbarstaaten geflohen sind, hat die Hälfte keinen Zugang zu Bildung. Für sie alle - so lautet die zweite zentrale Zusage der Konferenz - sollen bis Schuljahresende Mitte 2017 Schulen gefunden beziehungsweise gebaut werden. Auch die Berufsbildung gehört zu den Fördermaßnahmen, Kanzlerin Merkel etwa kündigte 1900 Hochschulstipendien für syrische Flüchtlinge an. Für die zwei Millionen Kinder in Syrien selbst, die derzeit keinen Unterricht erhalten, will man sich zumindest um "mehr Zugang zu sicheren Lernorten" bemühen.

Gerade die Vertreter der Nachbarstaaten Syriens machen klar, wie wichtig der von Merkel ausgerufene "Tag der Humanität und Hoffnung" für ihre Länder ist. So berichtete Tammam Salam, Üvergangspräsident des Libanon, wo eine Million syrische Flüchtlinge inzwischen fast ein Drittel der Einwohner ausmachen, von stagnierendem Wachstum und zunehmender Armut, mithin also einer explosiven sozialen Gemengelage: "Bald kann mein Land einen Ausbruch nicht mehr verhindern", meinte er, "es gibt ein echtes Risiko, dass die Flüchtlinge weiterziehen müssen." Ähnliches gilt auch für Jordanien, wo laut UN-Zahlen 86 Prozent der Syrer, die nicht in Camps wohnen, unterhalb der Armutsgrenze leben. Jordaniens König Abdullah forderte daher "eine Investition in die Hoffnung, die in unserer Region nicht im Übermaß vorhanden ist".

Für die Türkei hat die EU am Vorabend der Londoner Konferenz nach langem Streit mit Italien drei Milliarden Euro in diesem Sinne freigegeben. Für Libanon und Jordanien werden eigene Pakete geschnürt. Der britische Premier David Cameron kündigt entsprechende Handelserleichterungen an. So hatten die EU-Außenminister kürzlich darüber beraten, Waren "Made in Jordan" bevorzugt auf den Markt zu lassen, wenn syrische Flüchtlinge in dem Land gleichzeitig eine Arbeit aufnehmen dürfen - und damit die politisch gewünschte Aussicht auf ein auskömmliches Leben vor Ort erhalten.

Die kurz nach Beginn wieder ausgesetzten Friedensgespräche machten die Hilfs- und Entwicklungsanliegen der Konferenz "noch dringender", sagte UN-Chef Ban in London: "Näher als in Syrien kommt man der Hölle auf der Erden nicht." So berichtete Ankaras Regierungschef Ahmet Davutoglu, dass das Flächenbombardement von Aleppo, das Syriens Opposition vom Genfer Verhandlungstisch aufstehen ließ, bereits zu einer neuen Fluchtwelle zehntausender Menschen in Richtung türkischer Grenze geführt habe.

Ohne einen Waffenstillstand, den die im Dezember verabschiedete UN-Resolution verlangt, werde man sich deshalb der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini zufolge "im nächsten Jahr erneut treffen - mit noch mehr Geld, aber wieder keiner Lösung". Es sei die "Pflicht" der Anwesenden, alles für einen Erfolg der Friedensgespräche zu tun. US-Außenminister John Kerry berichtete in diesem Zusammenhang, dass er am Morgen mit seinem Amtskollegen Sergej Lawrow aus Russland telefoniert habe, das mit dem syrischen Diktator Bashar al-Assad engen Kontakt hält. Zumindest konnte Kerry ein wenig Hoffnung auf eine baldige Wiederaufnahme der Genfer Verhandlungen machen: "Wir werden zu diesen Gesprächen zurückkehren." Peter Maurer, der Präsident des Internationalen Roten Kreuzes, forderte dagegen von den anwesenden Weltenlenkern Sofortmaßnahmen: "Sie müssen sich noch stärker für das Ende der Belagerungen und den Zugang humanitärer Organisationen nach Syrien einsetzen."

Samah Bassas aus Syrien, die Hilfstransporte aus der Türkei organisiert, fasste das auf ihre Art zusammen: "Genug ist genug - bitte tun Sie endlich alles, damit dieser Krieg endet."

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