"Ich fürchte eine Menschenjagd"

Calais · Das Flüchtlingslager von Calais könnte schon nächste Woche vollständig geräumt werden. Doch Hilfsorganisationen kritisieren die Aktion scharf.

Calais. Von der Autobahn aus sind hinter den meterhohen Metallzäunen Hunderte blaue Zelte, Planen und Bretterbuden zu sehen. Im Herbst weht ein scharfer Wind zwischen den Elendsbehausungen in Calais, die bald verschwinden sollen. Denn die bis zu 10 000 Insassen sollen in Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt werden.
"Wenn die Bedingungen gegeben sind, besteht kein Grund mehr, sie in der Kälte und im Schlamm zu lassen", sagt Innenminister Bernard Cazeneuve. Dass die Zerschlagung des als "Dschungel" bekannten Flüchtlingslagers ausgerechnet jetzt passiert, hat nach Ansicht der Hilfsorganisationen weniger mit dem Wetter als mit der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr zu tun. "Das ist politisch motiviert", sagt Amin Trouvé Baghdouche, der für Médecins du Monde die Arbeit in Calais koordiniert, im Gespräch mit unserer Zeitung.
Ende September hatte Präsident François Hollande die "endgültige und vollständige Auflösung" des Lagers angekündigt - am Montag könnte es so weit sein. Die Stimmung unter den Flüchtlingen, von denen die meisten aus dem Sudan, Eritrea und Afghanistan kommen, ist deshalb angespannt. Baghdouche, dessen Organisation mit zehn Festangestellten und 20 Freiwilligen in Calais im Einsatz ist, glaubt nicht, dass das Lager nach der Räumung tatsächlich ganz verschwindet. "Die Flüchtlinge werden zurückkommen, denn sie wollen ja nach England", sagt er voraus. "Stattdessen werden sie innerhalb von 48 Stunden in die Auvergne oder nach Marseille verfrachtet. Dort leben sie dann isoliert von ihren Gemeinschaften und werden deshalb auch nicht lange bleiben."
Keine ausreichende Vorbereitung


Der Europarat bemängelt, dass die Räumung des Lagers, das als größter Slum Europas gilt, nicht ausreichend vorbereitet wurde. "Die Behörden haben nicht genau erklärt, was geplant ist und wie das Camp aufgelöst werden soll", kritisiert der Migrationsbeauftragte Tomas Bocek. Einige Kommunen wehren sich gegen die "Aufnahme- und Orientierungszentren", auf die die Flüchtlinge im ganzen Land verteilt werden sollen. "Keine Migranten in meiner Kommune" lautet ein Slogan von Bürgermeistern des rechtspopulistischen Front National. Auch der konservative Präsident der Region Rhône-Alpes, Laurent Wauquiez, startete eine Petition gegen die "Dschungel überall in unserem Land". Unklar ist deshalb, wie viele Flüchtlinge überhaupt anderswo untergebracht werden können. "Wir denken, dass man 9000 Plätze bräuchte, aber es gibt nur 7000", sagt der Menschenrechtsbeauftratge Jacques Toubon im Radio. "Diese Menschen könnten sich in einer Situation wiederfinden, die noch schrecklicher ist als ihre derzeitige Lage." Mehrere Hilfsorganisationen stellten deshalb einen Eilantrag gegen die Auflösung, der allerdings vom Verwaltungsgericht Lille abgewiesen wurde. "Wir haben uns nicht daran beteiligt", sagt Baghdouche im Namen von Médecins du Monde. "Denn wir wollen ja auch nicht, dass der Slum weiter bestehen bleibt."
Calais am Ärmelkanal ist seit mehr als zehn Jahren Zwischenstation für Tausende Migranten, die von dort aus mit der Fähre oder auf Zügen durch den scharf bewachten Euro-Tunnel nach Großbritannien weiterwollen, wo sie Verwandte haben und auf Arbeit hoffen. Auch rund 1200 unbegleitete Minderjährige leben derzeit im "Dschungel" unter miserablen Bedingungen. Etwa zwei Dutzend wurden diese Woche nach England gebracht, wo sie Familienangehörige haben. Doch der Rest? "Nichts ist für ihre Unterbringung und Betreuung vorgesehen", kritisiert Bocek.
Dagegen wird die Evakuierung des Lagers genau durchgeplant. Von Dutzenden Bussen und mehr als 1000 Polizisten, die zum Einsatz kommen sollen, haben die Helfer vor Ort gehört. Sie wollen aufpassen, dass die Flüchtlinge gut behandelt werden, denn Polizeigewalt ist keine Seltenheit in Calais. Erst im vergangenen Jahr veröffentlichte die Organisation Calais Migrant Solidarity ein geheim gedrehtes Video, das Misshandlungen zeigt.
"Ich fürchte, dass die Auflösung des Lagers zu einer Menschenjagd wird", sagt Baghdouche düster.

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