„Gesundheit europaweit gefährdet“ Medikamentenmangel: Alarmruf der Kinderärzte

Brüssel · Als am Wochenende der Brandbrief der europäischen Kinderärzte bekannt wurde, musste der EU-Gesundheitspolitiker und Arzt Peter Liese sofort an seine Erfahrungen bei einem Arbeitseinsatz in der Paderborner Kinderklinik denken.

Das automatisierte Medikamentenlager einer Apotheke.

Das automatisierte Medikamentenlager einer Apotheke.

Foto: dpa/Jan Woitas

„Einige kleine Patienten waren nur deshalb da, weil es das notwendige Antibiotikum nicht als Saft gab und sie deshalb für eine Infusionstherapie viele Tage im Krankenhaus liegen mussten“, erinnert sich der CDU-Europa-Abgeordnete. Er gibt den Kinderärzten mit ihrem Alarmruf deshalb „vollkommen recht“.

Kinder- und Jugendärzte aus Deutschland, Frankreich, Südtirol, Österreich und der Schweiz hatten sich am Wochenende an die Gesundheitsminister gewandt, um sie dringend zum Handeln aufzufordern. „Die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen ist durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet. Eine schnelle, zuverlässige und dauerhafte Lösung ist dringend erforderlich“, heißt es in dem Schreiben. Es fehle an Fieber- und Schmerzmedikamenten in kindgerechter Darreichungsform. Mediziner warnen seit Monaten, dass bei Lungenentzündungen, Harnwegsinfektionen, Scharlach oder ähnlichem die Antibiotika-Medikamente der ersten Wahl fehlten und daher zu anderen Medikamenten gegriffen werden müsse. Diese wirkten jedoch schlechter und erhöhten das Risiko von Antibiotikaresistenzen. Eugen Brysch von der Patientenschutz-Stiftung wies darauf hin, dass die Situation nicht nur für Kinder, sondern auch für chronisch Kranke problematisch sei, weil Blutfettsenker, Blutdruckmittel und Krebsmedikamente ebenfalls zum Teil zur Mangelware geworden seien.

„Die Situation ist dramatisch“, berichtet Liese. Er hält es für einen „Skandal, dass in den reichen mitteleuropäischen Ländern viele wichtige Medikamente für Kinder nicht ausreichend zur Verfügung stehen“. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek entschied am Wochenende, von einer gesetzlichen Ausnahmeregelung für Notfälle Gebrauch zu machen und vorübergehend die Einfuhr von in Deutschland noch nicht zugelassenen Arzneimitteln zu erlauben. Zudem rief der CSU-Politiker die Krankenkassen dazu auf, die Erstattung nicht zu verweigern, wenn Apotheker einen verschriebenen, aber nicht verfügbaren antibiotischen Saft durch ein selbst hergestelltes Arzneimittel ersetzen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach begrüßte das Vorgehen Bayerns und nannte die Warnungen der Kinderärzte „berechtigt“. Zugleich verwies der SPD-Politiker auf einen derzeit im Bundestag beratenen Gesetzentwurf, wodurch Hersteller künftig höhere Preise für Kindermedikamente verlangen dürfen, damit Lieferungen nach Deutschland wieder attraktiver werden. Wie von den Kinderärzten in ihrem Brandbrief gefordert, sollen für einzelne Medikamente auch Lagerpflichten eingeführt werden. Zudem will die Koalition Hersteller, die in Europa produzieren, stärker berücksichtigen.

Erst vor wenigen Tagen hatte auch die EU-Kommission in Brüssel eine umfassende Reform der EU-Arzneimittelgesetze vorgeschlagen. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides warb für einen „Binnenmarkt für Medikamente“ und beschrieb die aktuelle Situation, in der wichtige Arzneimittel in einigen Mitgliedstaaten kaum verfügbar seien. Nach den Angaben der Kommission kommt Deutschland noch verhältnismäßig gut weg. In den großen westlichen Ländern seien 90 Prozent der EU-weit zugelassenen Medikamente verfügbar, in einigen kleinen östlichen Staaten hingegen nur zehn Prozent.

Die Kommission schlug vor, die durchschnittliche Prüfzeit für neue Medikamente bei der Zulassungsbehörde EMA von aktuell rund 400 auf unter 200 Tage zu verkürzen. Entstehende Knappheiten sollten durch eine intensivere Beobachtung der Entwicklung auf dem Arzneimittelmarkt frühzeitig erkannt werden. Besonderes Augenmerk müsse „kritischen Medikamenten“ gelten, für die die EU mehr Kompetenzen zur Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten ins Gespräch brachte. Schon bei der Corona-Pandemie habe sich gezeigt, dass eine bessere grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Beschaffung von Impfstoffen und Medikamenten jedem einzelnen Staat zugute komme.

In der Problemanalyse von Gesundheitsexperte Liese steht indes der Befund weit oben, wonach „in vielen Fragen die Mitgliedstaaten gemeinsames europäisches Handeln blockieren“. Auch die von Lauterbach entwickelten und noch unzureichenden Vorschläge könnten ihre Wirkung nicht entfalten, wenn sie nicht mindesten mit anderen großen europäischen Ländern abgestimmt seien. „Nur gemeinsames Vorgehen macht die Herstellung wichtiger Medikamente in Europa wieder attraktiv“, meint Liese. Er setzt sich dafür ein, dass die Ausschreibungen durch die Krankenkassen künftig nicht mehr nur den Preis in den Mittelpunkt stellen, sondern auch die Lieferfähigkeit und die Produktion in der EU, nicht nur in China und Indien.

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