Erst flüchtet das Orchester, dann das Publikum

TRIER. Da hatte man sich anderes erhofft für die zweite Produktion der Antikenfestspiele 2006. Am Ende waren die Ränge leer, und das Wetter war zwar Anlass, aber nicht Grund für den Exodus. Es war einer der merkwürdigsten Momente in der an Skurrilitäten keineswegs armen Geschichte der Antikenfestspiele. Die letzte halbe Stunde der Oper hatte soeben begonnen, aus der City donnerte ein fernes Feuerwerk herüber, vom Himmel fielen ein paar Regentropfen.

Dirigent Istvan Dénes gab gerade seinen Solisten einen Einsatz, da ging ihm plötzlich sein Orchester verloren. Wie auf eine geheime Verabredung sprangen die Musiker davon, auf der Bühne erstarrten verblüffte Sänger, der Dirigent breitete resigniert die Arme aus, und im selben Moment leerte die Tribüne sich schlagartig.

Durch das Chaos erklang die unverstärkte und deshalb unverständliche Stimme des Intendanten. Etwa ein Viertel der Zuschauer blieb sitzen. Es gab eigentlich keinerlei Grund, zu gehen, der Regen - so er diesen Namen überhaupt verdiente - war schon zu Ende, bevor er richtig angefangen hatte.

Aber als nach einer Viertelstunde weiter gespielt wurde, kam kaum jemand zurück. Das gleiche Antikenfestspiel-Publikum, das einst bei "Rienzi" stundenlang bei eiskaltem Niesel ausgeharrt hatte, das bei "Oedipus Rex" Stürmen getrotzt und bei Peter Ustinov endlosen Schnürlregen ertragen hatte, nutzte die Chance, um still und leise nach Hause zu entschwinden. Eine Abstimmung mit den Füßen, und zwar eine alarmierende.

An der Qualität der Produktion kann es nicht gelegen haben. Regisseurin Kornelia Repschläger zeigte eine plausibel durchdachte, mit filigraner Personenführung gestaltete Version des Strauss'schen Opernzwitters. Und die musikalischen Leistungen hielten höheren Festspiel-Ansprüchen durchweg Stand.

Dabei ist das Stück ausgesprochen schwierig umzusetzen. Die erste Hälfte ist eine Parodie auf den Kunstbetrieb, wenn im Hause eines reichen Mäzens unversehens die bestellte seriöse Oper und der Nachtisch in Gestalt einer deftigen Komödie gemeinsam aufgeführt werden sollen, damit man rechtzeitig für das Feuerwerk fertig ist. Proteste erstickt der Haushofmeister (René Kollo, prägnant ohne jedes Chargieren): Die "Notenarbeits-Lieferanten" mögen sich nicht so anstellen, schließlich werde "das Spektakel bezahlt".

Das klingt nach Satire, wird aber im zweiten Teil, wenn die zerstückelte Oper " Ariadne " aufgeführt wird, todernst. An dieser Widersprüchlichkeit scheitern die meisten Regisseure, der Abend zerfällt in zwei fremde Teile.

Anders bei Repschläger. Da werden Ariadnes Fäden schon in der (trotzdem schön ausgespielten) Komödie gesponnen. Während sich vor dem Publikum, das auf die Rückseite einer Tribüne blickt (Bühnenbild mit vielen feinen Ideen: Manfred Breitenfellner), die Komödianten und die Operntruppe anzicken, wird es zwischen dem idealistischen jungen Opern-Komponisten und der lebensnahen Komödiantin Zerbinetta grundsätzlich. Da geht es auf einmal nicht mehr um Kunst-Kabale, sondern um das schmerzhafte Erwachsenwerden, den Verlust von Träumen, den Abschied von Schwärmereien, die faulen Alltags-Kompromisse. Die Auseinandersetzung zwischen Chariklia Mavropoulou (ein beseelt, kraftvoll und präzise singender Komponist) und Carmen Fuggiss (eine Zerbinetta, die Überzeugungskraft und Rollengestaltung über funkelndes Kunsthandwerk setzt) gerät zu einer Sternstunde.

Dem entspricht im zweiten Teil der kompromisslose, bis in den Tod gehende Liebesanspruch Ariadnes (furios und bewegend: Vera Wenkert). Und dessen Kollision mit Zerbinettas pragmatischer Philosophie, nach der Männer stets zunächst als Götter daherkommen und doch von der nächsten Liebschaft entzaubert werden. Da entwickelt Repschlägers Inszenierung Stringenz, Tiefe und wunderschöne Chiffren, und am Ende bleibt die Begegnung beider Welten nicht folgenlos für die Protagonisten. Dazu kommen fantasievolle, farbenfrohe Kostüme (Ralf Christmann), gut besetzte tragende Rollen aus dem eigenen Ensemble (Gor Arsenian als kraftvoller Bacchus, Laszlo Lukacs als wortverständlicher Musiklehrer) sowie eine engagierte, gut ausgearbeitete Solisten-Truppe.

Und nicht zuletzt ein (bis zum Abbruch) souverän waltender Generalmusikdirektor Istvan Dénes, der die verstärkten städtischen Philharmoniker wenn nicht zu Höhenflügen, so doch zu einer mehr als respektablen Strauss-Interpretation anleitet.


Aber warum klappt's dann nicht mit dem Publikum? Vielleicht, weil man mit dem dialoglastigen späten Strauss eine Oper für absolute Spezialisten ausgesucht hat, ein Salon-Stück, das in die Kaiserthermen nicht passen will, weil es Türen und Räume braucht, mit Melodien, die man oft und analytisch gehört haben muss, bevor sie sich erschließen. Man versteht zu wenig Text, aber der Text ist bei Strauß/Hofmannsthal elementar. "Die Oper hat Längen, gefährliche Längen", sagt der Tanzmeister zwischendurch zum Musiklehrer. Da nickt mancher auf der Tribüne.
Den für solche hohen Anforderungen nötigen Kredit beim Publikum hatten die Festspiele früher mal. Derzeit haben sie ihn nicht.

Das knappe Drittel, das am Ende noch da war, dankte dennoch mit herzlichem Beifall für eine starke künstlerische Leistung.

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