Wer närrisch sein will, muss leiden

Wittlich · Die Narren sind in Aufregung: Karneval steht vor der Tür. Wer kurzfristig noch ein Kostüm braucht, fährt meist ins Wittlicher Karnevalcenter. Dort ist - so kurz vor den närrischen Tagen - die Hölle los.

Wer närrisch sein will, muss leiden
Foto: klaus kimmling (m_wil )

Wittlich. Das Chaos beginnt bereits auf dem Parkplatz: Er ist vollkommen überfüllt, alle parken kreuz und quer, selbst auf der Straße. Ich entdecke noch einen freien Parkplatz. Doch plötzlich winkt mir eine Frau aufgeregt entgegen. Sie gibt mir zu verstehen, dass mein favorisierter Parkplatz nicht der meine sein soll und sie ihn frei hält. Das kann ja heiter werden! Aber ich finde dann doch noch einen freien Parkplatz.
Dann ist es so weit: Ich trete ein ins Karnevalcenter, das Paradies für Jecken und zugleich die Hölle für Fastnachtsmuffel. Es ist laut, stickig und warm - sehr warm. Vorbei an Schminke, Gitterkörben mit Accessoires und Perücken geht es zu den Kostümen im hinteren Teil des Ladens. Hier und da liegt der Teil eines Kostüms oder ein Petticoat halb auf dem Boden. Es besteht durchaus Stolpergefahr. Die Gänge sind voll mit Menschen, die auf der Suche nach dem passenden Kostüm sind, und Kinder wuseln wild herum. Sie wedeln mit ihren Errungenschaften, "Mama, guck doch mal!" Ich wage es und dränge mich dazu.
Die Wärme steigt mir langsam zu Kopf, und so ziehe ich mir erst einmal meine Winterjacke aus. Bunte Farben, von Müllmann-Orange bis Matrosen-Blau, strahlen einem aus jeder Ecke entgegen, die prall gefüllten Ständer laden zum Stöbern und Entdecken ein. Leichte Reizüberflutung wäre untertrieben. Die Kostüme sind noch in so gut wie allen Größen vorhanden. Auch die Verkäuferinnen nehmen sich trotz Hektik die Zeit, den Kunden bei der Suche nach dem perfekten Kostüm zu helfen. Schnell sind drei Kostüme für meine Anprobe ausgewählt. Obwohl der Laden proppenvoll ist, finde ich auch sofort eine freie Umkleidekabine. Also, los geht's.

Erster Versuch: Die Hexe: ein klassisches Kostüm, das immer geht. Ein Kleid, passender Hexenhut und sogar ein Hexenbesen waren schnell gefunden. Mindestens genauso schnell bilde ich mir ein Urteil über mein Outfit: hübsch, aber nicht ausgefallen genug. Doch Kurzentschlossene können mit einem solchen klassischen Kostüm nichts falsch machen.

Zweiter Versuch: Der Pinguin: ein plüschiges Ganzkörperkostüm, sehr gut geeignet für Menschen, denen schnell kalt wird. Doch frieren ist im Karnevalcenter unmöglich. Ich beginne zu schwitzen. Das Kostüm ist nicht nur unbequem, es ist auch noch zu klein (trotz Einheitsgröße). Der typische Watschelgang ist einem so aber sicher. Ich schäme mich, in diesem Outfit vor die Umkleidekabine zu treten. Doch unser Fotograf besteht auf ein Bild.

Dritter Versuch: Der Clown: kein Clown im Sinne von roter Aufstecknase und übergroßen Latschen, sondern ein buntes und weibliches Kleid, ergänzt mit Hütchen in der passenden Farbe. Ich fühle mich anders, als ich es erwartet habe, nicht so clownig. Ich fühle mich sogar ziemlich wohl. Wäre ich kurzfristig noch auf der Suche nach einem Kostüm, dann würde ich dieses auswählen.
"Tierkostüme und Clowns gehen immer", sagt Frau Mertes, Inhaberin des Karnevalcenter. Sie hat aber nicht viel Zeit und muss eine zweite Kasse öffnen. "Sie sehen ja, was hier los ist."
Chaos, schwitzende und hochrote Köpfe und hier und da genervte Gesichter der Kostümsuchenden (oder deren Begleiter). Die Suche nach der idealen Verkleidung kann also durchaus nervenaufreibend sein.
Die Nerven liegen blank


Musterbeispiele dafür sind schnell ausgemacht. Da wäre die Mutter, die ihrer Tochter immer wieder neue Kostüme in die Kabine reicht. Jedoch scheint das richtige noch immer nicht dabei zu sein, denn ein "Oh Mama, das doch nicht" und "Ne, das gefällt mir gar nicht" jagt das nächste. Also geht die Mutter erneut auf die Suche.
Oder der Ehemann, der vor dem Ständer mit den Pilotenkostümen steht und geistesabwesend ein Kostüm nach dem anderen zur Seite schiebt. "Ich mache das alles nur meiner Frau zuliebe", sagt er und verschwindet wieder im Getümmel, immer der Frau nach. Offenbar hat er Angst, sie zwischen all den Marienkäfern, Polizisten und Teufeln ganz aus den Augen zu verlieren.
Doch nicht nur die allgemeine Atmosphäre im Laden, sondern auch diverse Gerüche aller Art, die in der Luft liegen, machen die Suche nicht gerade angenehmer. Einen Hoffnungsschimmer gibt es: In der hintersten Reihe, dort, wo die Kinderkostüme sind, steht ein Fenster offen - ein Segen. Hier hat man kurz Zeit, nach frischer Luft zu schnappen, durchzuatmen und sich zu fragen, was man hier eigentlich macht.
Warum gibt es eigentlich so viele Menschen, die sich den Stress antun und kurz vor knapp ihre Kostüme suchen? Laut Inhaberin Mertes hat das vor allem einen Grund: "Die meisten bekommen jetzt erst richtig Lust auf Karneval. Vorher stand Weihnachten an, da ist man mit anderen Dingen beschäftigt."
Doch wir alle nehmen den Stress nur aus einem Grund auf uns: Karneval ist die Zeit, in der man in andere Rollen schlüpfen und jemand anderes sein kann, als man es sonst ist. Volkskundler Professor Michael Simon von der Johannes-Gutenbeg-Universität Mainz sieht in dem eigentlich christlichen Brauch, sich zu verkleiden, noch mehr: "Karneval ist die Zeit, in der die bestehende Ordnung gewissermaßen außer Kraft gesetzt ist. Man darf vieles von dem machen, was sonst gesellschaftlich nicht erwünscht ist. Dazu gehört, auf der Straße zu tanzen, in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken und zwischen den Geschlechtern freizügig miteinander umzugehen. Solche Bräuche werden in der ethnologischen Forschung als "Ventilsitten" bezeichnet, die dem Einzelnen dazu dienen, sich für einen kurzen Zeitraum im Jahr den vielfältigen gesellschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen zu entziehen, um danach geläutert zur vorgegebenen Ordnung wieder zurückzufinden."
Und es ist doch so: Nicht nur, wenn es darum geht, kurzfristig noch ein Kostüm zu finden, setzen wir uns großem Druck und Stress aus. Ob die Abgabe der Hausarbeit ansteht oder bis zur Bikinifigur noch ein paar Pfunde fehlen, der Weg ist das Ziel - es gibt keine Freude ohne Leid.

Extra

Gerlinde Paulus-Linn (40), Berglicht: "Bei einem Kostüm ist mir wichtig, dass es aus hochwertigem Stoff und gut genäht ist. Ein Kostüm habe ich noch nicht. Aber ich würde dieses Jahr gerne als Spanierin gehen." Christian (31), Trier: "Ich würde mich eher als Karnevalsmuffel bezeichnen. Aber meiner Frau zuliebe verkleide ich mich. Ganz wichtig ist mir bei einem Kostüm, dass es nicht zu warm ist." skExtra

 Karoline Mertes, Inhaberin des Karnevalcenters Wittlich.

Karoline Mertes, Inhaberin des Karnevalcenters Wittlich.

Foto: klaus kimmling (m_wil )
Wer närrisch sein will, muss leiden
Foto: klaus kimmling (m_wil )
Wer närrisch sein will, muss leiden
Foto: klaus kimmling (m_wil )
 Die Hexe: ein Klassiker unter den Kostümen – geht immer.

Die Hexe: ein Klassiker unter den Kostümen – geht immer.

Foto: (m_wil )
 Der ´Pinguin : Sitzt trotz großzügiger Einheitsgröße etwas stramm

Der ´Pinguin : Sitzt trotz großzügiger Einheitsgröße etwas stramm

Foto: klaus kimmling (m_wil )
 Der Clown: der Favorit unserer Reporterin Sarah Kahlmann.

Der Clown: der Favorit unserer Reporterin Sarah Kahlmann.

Foto: klaus kimmling (m_wil )
 Wenig Aufwand, große Wirkung: Mit der Hasenmaske kann man völlig unerkannt ins Getümmel.

Wenig Aufwand, große Wirkung: Mit der Hasenmaske kann man völlig unerkannt ins Getümmel.

Foto: klaus kimmling (m_wil )

Auch 2016 sind laut Karoline Mertes Clown- und Tierkostüme noch immer Dauerbrenner. Doch wer in diesem Jahr etwas Neues ausprobieren möchte, wählt ein Mieder oder Kostüme aus dem Industriezeitalter, sogenannte Steampunk-Kostüme. 2001, im Jahr der Gründung des Karnevalcenters, waren vor allem Piratenkostüme der Renner. "Es kommt auch immer darauf an, was gerade im Kino läuft oder sonst in den Medien präsent ist", sagt Karoline Mertes über vergangene und aktuelle Kostümtrends. sk

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