Musiker „Wirklich weinen kann man nur beim Bernstein“

Zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein beleuchtet eine neue Biografie das Leben des musikalischen Superstars aus Amerika.

Zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein erscheint eine neue Biografie
Foto: picture-alliance / obs/Arte_Deutschland

Gibt es noch etwas Neues zu berichten aus dem Leben und Wirken des Dirigenten, Komponisten, Pädagogen – kurz Superstar Leonard Bernstein? Eigentlich – nein. Denn dieser Künstler, der seine Wurzeln in der Alten Welt weder biografisch noch beruflich jemals gekappt hat, der vielmehr aus ihnen die Kraft und die Inspiration gewonnen hat, europamerikanische Musik zu schreiben, liegt, sozusagen, vor uns wie ein offenes Buch, von denen es zahlreiche über diesen Mann gibt. Beschrieben wurde(n) „das politische Leben eines amerikanischen Musikers“, die „unendliche Vielseitigkeit eines Musikers“, seine „letzten zehn Jahre“ oder „das amerikanische Original“, „Die Biographie eines Musikgenies“ und der „Magier der Musik“, um nur einige der Dutzenden (Unter-)Titel zu erwähnen, mit denen seine Lebensberichte geschmückt sind. Veröffentlicht wurden sein Briefwechsel und seine Essays („Freude an der Musik“) und das „Konzert für junge Leute“, mit dem er die Welt der Musik in 15 Kapitel eingeteilt hat.

Und jetzt „der Charismatiker“. So lautet der Untertitel des Buches, das der Geschichtswissenschaftler Sven Oliver Müller rechtzeitig zu Bernsteins 100. Geburtstag am 25. August 2018 veröffentlicht hat. Was kann Müller, zu dessen Spezialgebieten die Musikrezeption in Europa und Amerika gehört, noch bislang Unerhörtes, Ungelesenes, Ungewusstes beitragen? Kurz gesagt: nicht viel.

Und daher hat sich der Autor eines Kniffs bedient, der seinem Buch zumindest einen neuen Dreh beschert: Er buchstabiert das Leben des Musikers nicht chronologisch nach, sondern setzt die Persönlichkeit des Mannes, der neben Herbert von Karajan der medienwirksamste Dirigent des 20. Jahrhunderts war und die einander in puncto Eitelkeit und Selbstbewusstsein in nichts nachstanden, wie ein Puzzle aus thematisch unterschiedlichen Aspekten zusammen: Müller beschreibt in insgesamt zehn Kapiteln unter anderem den „Dirigenten“, den „Komponisten“, den „Privatmann“, den „Gefühlsmensch und Pädagogen“ und nicht zuletzt den „Amerikaner“ und den „Politiker“.

So schält sich allmählich das Bild von einem Mann und Musiker heraus, der nach außen hin zu den erfolgreichsten Künstlern seiner Generation gehörte, der sich zuvorkommend und verbindlich und ausgesprochen publikumsnah gab, der als Privatmensch jedoch unter einer lebenslangen Zerrissenheit und charakterlichen Wankelmütigkeit litt, die mit seiner notorischen Unpünktlichkeit begann und mit seiner sexuellen Unentschlossenheit die Toleranz seiner Familie und vor allem seiner Frau Felicia auf harte Bewährungsproben stellte. Sie musste beispielsweise damit klarkommen (und schaffte dies tatsächlich auch), dass ihr Gatte zeitweise den gemeinsamen Haushalt verließ, um mit einem Mann zusammenzuleben.

Als Musiker und Musikpädagoge dagegen konnte er sich der einhelligen positiven Meinung seiner Mitarbeiter gewiss sein. Wenn einige Kritiker, also die Menschen auf der anderen Seite des Schützengrabens, dem Dirigenten seine „Showeinlagen“ auf dem Podium und dem Komponisten seinen musikalischen Konservatismus ankreideten – kompositionstechnisch sei er im 19. Jahrhundert verhaftet geblieben, lautete ein häufiges Urteil –, so lobten ihn die Kollegen allerdings in höchsten Tönen. Die Mezzosopranistin Christa Ludwig etwa sagte über ihn: „Es ist bei ihm so aufregend, dass er immer etwas Neues entdeckt. (…) Dazu kommt noch, dass er so menschlich ist (…) Das ,Lied von der Erde‘ … ich habe es mit Solti, mit Klemperer, mit Karajan gemacht – aber wo man wirklich weinen kann, das ist beim Bernstein.“

Worunter der Erfolgsverwöhnte freilich am meisten litt, war der Umstand, dass seine „seriösen“ Kompositionen nie die Wertschätzung erlangten, die er selbst für sie erhoffte. Seine Sinfonien und Kammermusiken – mit vielen seiner Werke erweist er seinem „Amerikanismus“ und seinem Judentum Reverenz – blieben Achtungserfolge, die sich nicht wirklich in den Konzertsälen weltweit einen festen Platz erobern konnten. Und einem „klassischen“ Musiker kann es natürlich nicht reichen, sich allein wegen eines Werkes wie der  „West Side Story“ immerwährenden Ruhmes erfreuen zu können. Was manch anderem freilich schon mehr als genug gewesen wäre …

 Leonard Bernstein, Dirigent, Komponist, Pädagoge.

Leonard Bernstein, Dirigent, Komponist, Pädagoge.

Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb/Horst Pfeiffer
 Cover neue Bernstein-Biographie

Cover neue Bernstein-Biographie

Foto: Verlag Reclam/Verlag

Sven Oliver Müller: „Leonard Bernstein – Der Charismatiker“, Reclam Verlag Stuttgart, 302 Seiten, 28 Euro.

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