Kurz vor acht

ERNZEN. Volkstheater in der Eifel ist populär. Theatergruppen sprießen wie Pilze aus dem Boden, die Resonanz ist groß. Um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, hat sich TV -Mitarbeiter Marco Neises hinter den Kulissen bei einer Theateraufführung in Ernzen umgeschaut.

Walters Uhr tickt, die Sekunden rasen, nur noch wenige Minutenbis zur Aufführung der "Lügenglocke". Ein Blick hinter dieKulissen einer Laienbühne. Walters linke Hand greift in dieWestentasche und zückt eine silberne Taschenuhr. Der Daumenflitzt an der Öse vorbei. Klack. Der Uhrdeckel klappt auf Walterblickt aufs Zifferblatt. Er spitzt die Lippen, zieht dieAugenbrauen hoch und atmet tief durch. "Noch fünf Minuten", stöhnt er. Klack. Klappe zu. Die linke Hand lässt die Uhr wieder zurück in die Seitentasche gleiten. Noch fünf Minuten bis zum ersten Akt. Noch fünf Minuten, bis er als selbstherrlicher Bürgermeister vor das Publikum tritt. Dann wird er oft in den Saal schreien, die Faust ballen und den Zeigefinger heben. Das verlangt die Hauptrolle von ihm. Das Drehbuch der "Lügenglocke" will einen aggressiven Bürgermeister - plump und herrisch.

Einen trotteligen Choleriker. "Der Bürgermeister ist ganz anders als ich. Das ist der Reiz daran", findet Walter. Deshalb spielt er gerne diese Rolle, und er hat sich dafür sogar den Bart abrasiert. Die Schauspielerei ist seine Leidenschaft.

Mit 17 Jahren stand er zum ersten Mal im Rampenlicht. Es war bei einem Dorffest in Ernzen, und Walter spielte einen Vagabunden. Seitdem ist er im Element, wenn die Zuschauer applaudieren und über ihn lachen. Dann erlebt er Glücksgefühle. "Den Nervenkitzel, das Lampenfieber und das ganze Drumherum brauche ich ab und zu", sagt er. Klar, die Schauspielerei hätte er gerne zum Beruf gemacht. "Aber damals waren die Zeiten eben anders", sagt Walter, "da war an so was gar nicht zu denken."

Warum die Theatergruppe Komödien spielt

Heute ist er 47 Jahre alt und Büroarbeiter bei einer Kühlgerätefirma. Doch darüber kann er jetzt nicht nachdenken.Wieder greift er nach der Taschenuhr, wickelt die silberne Uhrkette um den Zeigefinger und lässt die Uhr kreisen. So steht er für einen kurzen Moment da. Nur seine Augen sind in Bewegung.

Walter schaut sich in hinter den Kulissen um, wo er zusammen mit den anderen acht Schauspielern auf den ersten Akt wartet. Im ersten Akt wird eine Gemeinderatssitzung gespielt.

Dann müssen außer Christa und "Doris 1", die erst im zweiten Akt auftreten, alle raus. Der Theatergruppen-Neuling Guido läuft hin und her. Paul, Bert und Claudia kauern steif wie Schaufensterfiguren auf der Holzbank, die Augenfest auf die Buchstaben des Texthefts gerichtet.

Toto blinzelt durch eine winzige Lücke im Vorhang ins Publikum. Auf einem Stück Bühne, das hinter den Kulissen herausguckt, sitzt "Doris 2", die ihr Bierglas nur dann loslässt, wenn sie eine Seite im Textheft weiter blättert Wer keinen Platz auf dem Stück Bühne oder auf dem Stuhl findet, muss wie Walter im Stehen warten.

Für Luxus ist kein Platz im Ernzener Dorfgemeinschaftshaus. Der Etat der Theatergruppe ist begrenzt. Vier Stellwände aus Spanplatten, mit ausgesägten Fenstern und einer Türe, dienen der Theatergruppe seit Gründung vor 20 Jahren als Kulisse. Die Utensilien fürs Bühnenbild, rustikal und ohne Schnickschnack, haben sie sich selbst besorgt: Eine Theke, zwei Kneipentische mit acht Stühlen, zwei Landschaftsgemälde, einen Teppich und einen Kleiderständer. Das Stück spielt in einem fiktiven Wirtshaus. Eine Komödie - wie jedes Jahr.

"Das kommt gut an", sagt Toto. "Die Eifeler wollen Mundart-Stükke sehen", ergänzt Doris. Kein Dürrenmatt oder Shakespeare - leichte Kost ist angesagt. Lachen wollen sie und einen unbeschwerten Abend verbringen.

Unbeschwert. Kaum das richtige Wort für Walter. Die Zeiger seiner Silberuhr stehen auf kurz vor acht. "Puhh!", stöhnt er. Seine Augen reißen auf und starren an die Wand. "Text vergessen", flüstert Walter den anderen zu. Er setzt sein Grübchen-Lächeln auf. Die anderen grinsen mit. Walter greift sich sein blaues Textheft und lässt sich auf den Platz auf der Holzbank fallen, den Claudia gerade frei gemacht hat.

Wie Walter mit seiner Nervosität umgeht

Walter blättert die erste Seite auf. Sie ist weiß und zittert in seiner Hand. Er guckt sie eine Weile an, schüttelt den Kopf, blickt an die Wand und blättert weiter. Eine Seite ist mit gelben Textmarker bemalt.

Walter schaut sie einen Augenblick an, tippt rhythmisch mit dem Zeigefinger darauf und klappt das Heft zu. Sofort schlägt er es wieder auf, nickt, schließt es wieder und summt leise den Schlager"Mi-cha-eeeela-aha".

"So verarbeitet er die Nervosität", sagt "Doris 2". Nervös sind sie alle. Schließlich haben sie drei Monate lang für diesen Auftritt geprobt. Alles soll glatt laufen. Zack. Walter hüpft wie ein Skispringer in den Stand, macht zwei Kniebeugen, lässt die Taschenuhr wieder klacken, rutscht über den Boden zu Toto am Vorhang und blinzelt durch den Spalt in den Zuschauerraum.

Lautes Geplapper erfüllt den Raum. Es riecht nach Bockwurst. 175 Eintritte haben die Kartenverkäufer gezählt. Die meisten Leute kennt Walter gut. Viele kommen aus Ernzen, diesem kleinen Eifel-Dorf mit rund 400 Einwohnern. Walter zuckt zurück. Roter Kopf. Schweißperlen auf der Stirn. "Ready to go", flüstert Toto. Er zieht eine weiße Wollschnur. Wusch. Die beiden Gardinen huschen zur Seite. Stille im Saal. Walter zückt die Taschenuhr.

Der Bürgermeister muss als erster raus. Mit Taschenuhr in der Hand. So steht es im Drehbuch.

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